© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Mahnung zur Besonnenheit
Energie und Sicherheit: Der US-Strahlenexperte Robert Peter Gale rückt die weitverbreitete Panik bezüglich der Kernenergie in geordnete Relationen
Ronald Berthold

Zehntausend Tote jedes Jahr weltweit – nur damit unser Strom aus der Steckdose kommt? Nein danke – sofort aussteigen! Nimmt man die Debatte um die Atomenergie zum Maßstab, bliebe bei solchen Zahlen eigentlich nur das Abschalten – und zwar aller Kohle-Kraftwerke. Denn bei Grubenunglücken sterben jedes Jahr mindestens 10.000 Kumpel. „Auch der Transport und die Weiterverarbeitung der Kohle fordern Menschenleben“, ergänzt Robert Peter Gale. Der 65jährige Mediziner leitete das internationale Ärzteteam, das nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl aktiv wurde.

Mit seinen Zahlen rückt Gale, der seit Fukushima auch die japanische Regierung berät, die Hysterie bezüglich der Kernenergie in geordnete Relationen. Nein, der international anerkannte Spezialist für Strahlenkrankheiten relativiert nicht – er mahnt zur Besonnenheit. Denn die Angst vor der Strahlung stehe in keinerlei Bezug zu deren Gefährlichkeit. Dafür führt der Amerikaner Zahlen an, die in der aufgebrachten Stimmung in Deutschland fast niemand hören möchte.

Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl kamen unmittelbar 31 Menschen um. Nur 31 könnte man eigentlich sagen. Denn nimmt man die bis heute andauernde Panik rund um den GAU von vor 25 Jahren zum Indikator waren es gefühlte Tausende, wenn nicht Zehntausende, die ihr Leben ließen. Bleiben wir also bei den Relationen: 31 Tote – beinahe jedes Flugzeugunglück fordert mehr Menschenleben.

Selbstverständlich starben an den Folgen des Unglückes weit mehr Menschen, und dies soll auch keinesfalls verharmlost werden. Laut Gale werden „innerhalb von 50 Jahren nach der Explosion in Tschernobyl insgesamt 2.000 bis 15.000 Menschen zusätzlich an Krebs sterben.“ Bis heute ist dagegen oft von angeblich 100.000 Toten im Zusammenhang mit Tschernobyl die Rede. Doch diese Zahl hat nichts mit der Wirklichkeit gemein.

Bereits vor sechs Jahren ist sie endgültig ins Reich der Fabel verwiesen worden. Um endlich Klarheit über die tatsächliche Zahl der Opfer zu erreichen, trat im September 2005 das sogenannte Tschernobyl-Forum zusammen. Die Internationale Atomenergie-Organisation und zahlreiche andere Nichtregierungsorganisationen kamen nach eingehender Untersuchung zu dem Schluß, daß die auf die Katastrophe zurückzuführenden Todesfälle bei insgesamt 4.000 liegen.

Nimmt man diese Zahlen, so sterben laut Gale 40 bis 300 Menschen pro Jahr an den Folgen der in der Ukraine freigesetzten Radioaktivität. Das Tschernobyl-Forum kommt auf 190 Tote jährlich und liegt damit ziemlich genau in der Mitte.

Dies ist eine erschreckende Zahl – aber sie ist nicht erschreckend hoch. Auch für diese nüchterne, aber keineswegs gefühlskalte Feststellung bedarf es noch einmal gewisser Einordnungen. Nehmen wir zum Beispiel die Zahl der Drogentoten – nur in Deutschland. Zwischen 2001 und 2010 starben laut Bundeskriminalamt pro Jahr zwischen 1.237  und 1.835 Menschen am Rauschgiftmißbrauch. Aber ausgerechnet viele jener politischen Aktivisten und auch jene Partei, die seit Jahrzehnten einen sofortigen Atomausstieg fordern, sind gleichzeitig für die teilweise oder völlige Freigabe bisher illegaler Drogen.

Daß die Zahl der Rauschgifttoten durch eine Liberalisierung deutlich steigen würde, weil es mehr Konsumenten geben würde, ist unbestritten. Seit 2001 sind also allein in Deutschland 14.243 Menschen an den Folgen des Drogenkonsums gestorben. Dies sind 10.000 mehr als über einen doppelt so langen Zeitraum – nämlich in den vergangenen 25 Jahren – an den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.

Und im Kohlebergbau ließen seit Tschernobyl eine Viertelmillion Menschen ihr Leben. Man darf sich schon wundern, daß diese Zahl – sie ist in Relation zu den 4.000 Kernenergietoten wahrlich erschreckend hoch – überhaupt nicht thematisiert wird, wenn es um Energiegewinnung aus Kohlekraftwerken geht. Im Vordergrund der Debatte stehen hier einerseits die Zahl der Arbeitsplätze, die der (Unter-)Tagebau sichert und andererseits die Luftverschmutzung. Wer aber eine Diskussion um Energie und Sicherheit führt, der muß auch im Zusammenhang mit dem Bergbau von Toten und zum Teil menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen reden.

Doch das tut niemand. Denn mit einer unsichtbaren Strahlung läßt sich viel mehr Grusel verbreiten als mit einem Grubenunglück. Letzteres kann doch „nur“ die Bergleute treffen, nicht aber die junge Mutter, die in der Nähe eines Kernkraftwerkes wohnt. Es ist bemerkenswert, wie hier in moralisch wichtige und eher unbedeutende Tote unterschieden wird. Niemand würde auf die Straße gehen, um gegen Kohle zu demonstrieren, obwohl diese – statistisch betrachtet – 62mal mehr Tote fordert als die Atomkraft.

Doch dies wird hingenommen wie ein Verkehrsunfall. Apropos: Laut Weltbank und Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben auf dem Globus jährlich etwa eine bis 1,2 Millionen Menschen an den Folgen von Unfällen im Straßenverkehr. 40 Millionen Menschen erleiden dabei Verletzungen. Fordert deshalb jemand den sofortigen Ausstieg aus dem Personenkraftverkehr?

Bleiben wir weiterhin bei den Relationen: Die stinknormale Grippe rafft jeden Winter Tausende Deutsche dahin – die meisten 1995/1996. Da waren es 31.000 Tote, die die Influenza zwischen Rhein und Oder forderte.

All diese Zahlen sind kaum jemandem präsent, wenn er über die unerhörte Gefahr durch die friedliche Nutzung der Kernenergie spricht. Der Leiter des internationalen Ärzteteams von Tschernobyl, Robert Peter Gale, sagt nun sogar, daß umgekehrt „die Folgen der Strahlung für die menschliche Gesundheit weitaus weniger drastisch sind, als es bis heute fast alle glauben“.

Der Onkologe hat für die Umgebung von Tschernobyl eine überraschende Erkenntnis gewonnen: „Es gab in den 25 Jahren, die seit dem Unfall vergangen sind, keine überzeugend dokumentierte Zunahme von Leukämiefällen oder anderen Krebsarten.“

Gale, andere Mediziner und Wissenschaftler klammern das Risiko aber aufgrund der scheinbar beruhigenden Lage nicht aus. Sie greifen vielmehr auf die Daten zurück, die zeigen, wie sich das Krebsrisiko der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki entwickelt hat. Auf diese Weise errechnen sie das Ausmaß der Folgen einer Reaktorkatastrophe. Aber auch hier ist – wie eingangs dargestellt – die Zahl selbst über den Zeitraum von 50 Jahren deutlich geringer als man annehmen möchte und als unausgesprochen als Drohkulisse aufgebaut. Gale und andere Experten rücken diese Zahlen in eine weitere Relation, „da in diesem Zeitraum in der EU und der ehemaligen Sowjetunion 80 Millionen Menschen ganz unabhängig von Tschernobyl an Krebs sterben werden“.

Auch die Opferzahlen des Unglücks von Fukushima werden daher weit geringer sein als deutsche Medien suggerieren. In Japan sei, so Gale „etwa ein Zehntel der Menge an Jod 131 und Cäsium 137, die in Tschernobyl ausgetreten ist, in die Umwelt gelangt, wobei sich diese Menge auf viel geringerem Raum verteilt“. Ein weiterer Unterschied zur Katastrophe in der Ukraine bestehe darin, daß es in Japan gelungen sei, den Verzehr von kontaminierter Milch und Milchprodukten zu unterbinden sowie Jodtabletten zu verteilen.

Der Mediziner rechnet daher für die nächsten fünfzig Jahre mit 200 bis zu 1.500 zusätzlichen Fällen von Leukämie und anderen Krebsarten. Dies wären vier bis dreißig Erkrankungen pro Jahr. Um das klar zu sagen: Jeder Einzelfall ist furchtbar, und hinter jedem Toten steckt eine Familie, die trauert. Aber in einer industrialisierten Gesellschaft bleibt das Risiko, an den Folgen einer Atomkatastrophe zu sterben, überdeutlich hinter vielen anderen Gefahren zurück.

Im selben Zeitraum werden unabhängig von der Atomkatastrophe etwa 18 Millionen Japaner an Krebs sterben, so Gale: „Das Risiko, das sich Fukushima zuschreiben läßt, wäre also kleiner als 0,1 Promille – deutlich unter dem Wahrnehmungshorizont epidemiologischer Studien.“

Und daß es keine Energie ohne Risiko gibt, verdeutlichen auch die Zahlen im Zusammenhang mit Windkraft. Selbst durch die Nutzung dieser grünen Energie sind seit 1975 weltweit 22 Menschen gestorben.

www.robertgalemd.com

 

Die CDU und der Atomausstieg

Geht es nach der CDU, dann gibt es für ein „beschleunigtes Ende“ der Nutzung der Kernenergie keine Alternative.  Zwar habe man noch im Jahr 2007 beschlossen, die Kernenergie als längerfristige  „Brückentechnologie“ zu sehen. Die Reaktorkatastrophe im Hochtechnologieland Japan sei nun aber auch für die CDU  „Anlaß“, über ihre Position zur Kernenergie „neu nachzudenken.“ Entsprechend präsentierte der CDU-Bundesvorstand vergangene Woche sein Umstiegskonzept. Es trägt den Titel „Den Umstieg beschleunigen – Wegmarken in das Zeitalter der Erneuerbaren Energien“ und soll als „Kompaß für den Aufbruch in ein neues Energiezeitalter“ dienen. Die Wegmarken sind: Stärkung des Klimaschutzes durch Erneuerbare Energien,  Effizienzsteigerungen bei modernen Kohle- und Gaskraftwerken sowie der Ausbau zukunftsfähiger Netzinfrastruktur und Energiespeicher.  Auch will man die Suche nach einem „sicheren Endlager“ vorantreiben. Eine Jahreszahl für den Ausstieg aus der Kernenergie wurde in dem Beschluß nicht genannt. Man wolle die Berichte der Reaktorsicherheits- und Energie-Ethik­kommission der Bundesregierung abwarten. Letztere hält nach Medienberichten einen Atomausstieg bis zum Jahr 2021 für möglich.

Foto: Anti-Atomkraft-Demonstration in München (26. März 2011): Unter dem Motto „Fukushima mahnt: Atomkraft abschalten!“ offenbaren Zehntausende ihre Ängste vor der Kernenergie

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