© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Pankraz,
Charles Carillo und das kühle E-Book

Ganz leicht und bedachtsam ließ Pankraz seine erste Lektüre eines elektronischen Buches (E-Book) via Lesemaschine „Kindle 3“ angehen. Es sollte kein schwieriges Werk sein, dessen Inhalt einen von der Aufmerksamkeit für die neuartige Lesesituation ablenkte, es sollte aber auch kein bloßes Arbeitsmaterial sein, sondern eine „echte Software“, die von sich aus interessierte. Also wählte er den Roman „Das Wunder kam beim Rasenmähen“ von Charles Carillo (Pendo Verlag). Er kannte schon „Sag bloß Mama nichts davon“ vom selben Autor, und das hatte ihm Lust auf mehr gemacht.

Charles Carillo ist ein ehemaliger amerikanischer Klatschreporter von der New York Post, der seit einiger Zeit drollige Bücher schreibt, etwa im Stil von „Drei Männer im Schnee“ von Erich Kästner. Man darf ihn um Himmels willen nicht mit dem berühmten Archäologen Charles Carrillo verwechseln, der sich mit zwei R schreibt. In „Sag bloß Mama nichts davon“ ging es um zwei Typen, Vater und Sohn, die gleichzeitig in größte Schwierigkeiten geraten. Der Alte verliert seinen Job, der Junge rasselt durchs Abitur, und beide wollen das mit allen Mitteln vor der Ehefrau bzw. der Mutter geheimhalten.

Das wurde alles mit gutem, nämlich doppelbödigem Humor und kitschfrei hererzählt, und das neue Buch „Das Wunder kam beim Rasenmähen“ (Originaltitel: „One Hit Wonder“) blieb voll auf dieser Spur, wie Pankraz nun per E-Book mit Genugtuung erfuhr. Es handelt von einem siebzehnjährigen Gärtnergehilfen in einer Kleinstadt, Mickey DeFalco aus Little Neck, der sich total in das Mädchen Lynn Mahoney verliebt. Noch beim Rasenmähen denkt er nur an sie, und da fällt ihm also der Song „Sweet Days“ ein, den er dann singt und immer wieder singt, so daß ihn schließlich auch ein Musikproduzent hört und umgehend vermarktet.

Sweet Days“ wird ein Riesenhit und Mickey zum momentanen Popstar im ganzen Land. Nur das Mädchen Lynn reagiert nicht, gerät ihm sogar über all dem Starrummel aus den Augen. Und da sich bald herausstellt, daß Mickey DeFalco nichts weniger als ein Sänger und Liedermacher ist, sondern ein ganz gewöhnlicher Kleingärtner, und daß auf seinen Anfangshit nicht das geringste mehr folgt, versinkt der Protagonist buchstäblich im Nichts. Er geht eine Ehe ein, die scheitert, alle beruflichen Illusionen zerstieben, nur die Schulden wachsen und wachsen und – Schnitt.

Zwanzig Jahre sind vergangen, und Mickey ist vollkommen am Ende. Er ist an seinen Heimatort Little Neck zurückgekehrt, lebt wieder bei seinen Eltern, schläft in seinem alten Kinderzimmer und arbeitet wieder in dem Job als Gärtnergehilfe. Er mäht wieder Rasen, und überall trifft er alte Bekannte, die ihm mit einer Mischung aus offen bezeugter, von vergangenem Sängerruhm säuselnder Wiedersehensfreude und heimlichem Mitleid begegnen, was ihn zusätzlich in Melancholie stürzt.

Aber auch Lynn Mahoney ist noch da, wie Mickey bald erfährt. Doch sie ist nicht mehr „das Mädchen mit den schönsten grünen Augen der Welt“, die er einst in seinem Song „Sweet Days“ besungen hat. Sie ist eine Frau mit Schicksal, in schwierige, ja tragische und trotzdem völlig unromantische Verhältnisse verstrickt, und wie sich die beiden, Mickey und Lynn, langsam wieder annähern, aber diesmal gewissermaßen auf völlig realistischer Basis und ganz und gar illusionslos – davon handelt der neue Roman von Charles Carillo.

Es ist eine Art moderner Erziehungsroman. Pankraz, der bei der Lektüre dauernd von neuartigen Eindrücken aus der ungewohnten elektronischen Hardware abgelenkt wurde, mußte unwillkürlich an Balzacs monumentalen Dreiteiler „Verlorene Illusionen“ denken. Auch dort geht es ja ausdrücklich um „Szenen aus dem Provinzleben“, auch dort wird ein biederer Kaffbewohner, Lucien Chardon, indem er (keinen musikalischen, sondern) einen journalistischen Knaller landet, raketengleich in die Höhen metropolitanen Medienbetriebs geschleudert, um schließlich spektakulär zu scheitern und sich aller Illusionen zu entledigen.

Freilich, während Chardon darüber regelrecht zum Verbrecher wird, sich hemmungslos dem „Glanz und Elend der Kurtisanen“ ausliefert, kehrt Mickey DeFalco am Ende in aller Biederkeit zu seinem Rasenmäher zurück und findet zwar nicht sein „Glück“, aber doch ein vernünftiges Arrangement mit seiner alten Jugendliebe. Das ist in jedem Falle mehr, als in der Bilanz Chardon vorweisen kann. Wer die „Sweet Days“ im Stadium der Desillu-sion nur „bewahren“ kann, indem er zum Lump wird, ist sehr viel verächtlicher als jeder geborene Rasenmäher, der schlicht bei seinem Leisten bleibt.

Wie schrieb einst der alte Schopenhauer? „Die Liebe ist ein Täuschungsmittel der Natur zu dem alleinigen Zweck der Erhaltung der Gattung (…) Wenn die Eier gelegt sind, hören die Balzgesänge auf.“ Das ist wohl wahr, bedarf aber des Zusatzes:  Beileibe nicht alle Gesänge sind bloße Balzgesänge, und nicht jeder, der in fortgeschrittenen Semesterlagen etwas abkühlt, verfehlt deshalb das Leben. Und er verfehlt, als Schriftsteller, auch nicht die Literatur.

Übrigens, was Pankraz nach Abschluß der Carillo-Lektüre per E-Book und Kindle auffiel, war die abkühlende Wirkung dieser Art von Lesen. Das E-Book ist, in der Terminologie von Marshall McLuhan gesprochen, ein ausgesprochen „cooles“ Medium, sehr viel „cooler“ als Fernsehen oder Telefon, vom Bücherlesen klassischen Stils ganz zu schweigen. Dieses hat spürbar einen intensiven Nachhall, der lange anhält und zum Mitleiden einlädt. Beim E-Book schaltet man den Laden aus und mit ihm sämtliche Gefühle ab.

Eine nicht unbedenkliche instrumentelle Wurstigkeit gerade gegenüber der sogenannten „Schönen Literatur“, also Gedichten und Romanen, breitet sich aus. Man fühlt sich als E-Book-Leser den Belletristen irgendwie überlegen, steht jedenfalls eher auf der Seite der Techniker und der erklärten Wissenschaftler. Wenn demnächst von einer „gefährlichen Auskühlung“ der Literatur gesprochen wird, sollte man wissen, wo das herkommt.

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