© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Der Verlust von Leidenschaft
Theater: Heinrich von Kleist auf der Bühne
Harald Harzheim

Im November vor hundert Jahren, 1811, erschoß Heinrich von Kleist seine krebskranke Freundin Henriette Vogel, anschließend sich selbst. Noch wenige Minuten zuvor sah man sie lachend umherlaufen, hieß es. Den Nachhall der Schüsse glaubt man heute noch zu hören. Welch Sarkasmus, daß der Todesschuß auch zum Startschuß wurde – zur Postmortem-Entdeckung des bis dahin erfolglosen Dramatikers Kleist. Endlose Interpretationen, Inszenierungen und Adaptionen folgten, weniges traf. Etwa das Kleist-Porträt (1936) des Surrealisten André Masson: der Dichter als schreiendes Fleisch.

Seit einigen Jahren ist Kleist der vielleicht meistgespielte Klassiker auf hiesigen Bühnen, und im Jubliäumsjahr 2011 fährt man nochmal kräftig auf: Neue Biographien kommen auf den Markt, es gibt mehrere Ausstellungen, Theater adaptieren selbst seine Novellen, veranstalten ganze Werk-Retrospektiven. So sehr man Kleist zu brauchen scheint, so nährt Bisheriges den Verdacht, daß die Nachwelt den Bezug zum Jubilar verloren hat (falls sie ihn jemals hatte), daß der Graben unüberspringbar wurde.

Reden wir nicht von zähen Pflichtaufführungen städtischer Repertoirebühnen. Nehmen wir als Beispiel ein Kleistprojekt aus der Berliner Off-Szene, der „Theaterkapelle“: Dort inszeniert die junge Regisseurin Miriam Sachs bis Ende des Jahres einen neunteiligen Kleistzyklus. Der erste Teil, „Kleist.Krieg. Ausnahmezustand – Eine Computer-Schau-Spiel-Performance über die Kleistschen Kriege“, kam kürzlich zur Premiere. So vielversprechend der Titel, so ernüchternd das Resultat.

Die Textgrundlage, aus der „Hermannschlacht“, dem „Prinzen von Homburg“, der „Penthesilea“ und Briefen des Autors montiert, wird mal mit mehr, mal mit weniger ironischer Brechung präsentiert. Assoziative Ausweitung bieten Projektionen auf einer Gazeleinwand. Da werden Schlachten um Fehrbellin als Computerspiel animiert, virtuelle Figuren reihenweise abgeschossen. Da fragt der Prinz von Homburg auf seiner Facebook-Seite: „Bin zum Tode verurteilt!!! Why?“ (Nein, das Publikum konnte nicht die „Gefällt mir“-Taste klicken oder einen Kommentar dazu schreiben). Da werden Assoziationen zwischen Kleists Traumwelt und virtueller Realität versucht, mutiert die Kleistsche „Marionette“ zum „Avatar“. Da schließt man Kleists kriegerischen Furor mit Dokumenten des 20. Jahrhunderts kurz, läßt einen „Wochenschau“-Kommentator berichten, unter „Kommandant Kleist“ sei der Ring um die Sowjets geschlossen worden.

Später fliegen Hermann und der Prinz von Homburg als Ami-Soldaten im Helikopter, sprechen im US-Slang, mit klassischer Bogart-Kippe im Mundwinkel. Es sei dahingestellt, ob solche Bearbeitung zu einem neuen oder tieferen Werkverständnis führt. Ungewollt verrät sie aber einen viel allgemeineren, tieferen Konflikt zwischen Kleist und der Gegenwart, weil sie die emotionale Dimension des Autors weitgehend aussparte (lediglich Magdalena Scharler ließ als Penthesilea für Sekundenbruchteile den psychologischen Sprengstoff dieser Rolle ahnen).

Damit berührt „Kleist.Krieg. Ausnahmezustand“ ein Problem, das modernes Regietheater mit werktreuer Inszenierung teilt: den Verlust wirklicher Leidenschaft, inniger Ekstase. Es fehlt die „Seele“, die emotionale Füllung unter dem visuellen Spektakel. Ein Verlust, den man mit Brechung und Verfremdung, durch gespielten „Unglauben“ ans seelische Potential zu überspielen sucht: „Solche Emotionalität gibt es in der ‘rationalisierten’ (Post-)Moderne nicht mehr“, singen die Chöre der Castorfs, Kriegenburgs und Epigonen.

Nur, bei keinem Dramatiker hinterläßt das größere Leere als bei Kleist. Aber wo liegt dieser Verlust begründet? Dramaturgen, Regisseure, Interpreten (re-)agieren auch nur auf Grundlage des aktuellen Zeitgeistes. Und der hat alle Begriffe, jede Sprache des Ekstatischen, Rasenden, Überschäumenden, Dionysischen, Furorhaften der Psychiatrie überlassen. Nach jeder „übergroßen“ Leidenschaft folgt der pathologische Befund, fällt ein psychiatrischer Begriff: manisch-depressiv, zwangsneurotisch, psychotisch, paranoid, hysterisch.

Konsequenterweise verlegte Luk Perceval seine „Penthesilea“-Inszenierung (Schaubühne Berlin, 2008) in die Psychiatrie. Für jede Kleistfigur stünde heutzutage eine Gummizelle bereit, letzter Platz wahrhaft Lebendigem. (Das begann schon mit Goethes Ablehnung des „hypochondrischen“ Kleist zugunsten „gesunder“ Klassik.) Wird aber alles Außer-sich-sein zur Krankheit erklärt, ist das Gesunde nur noch der Tod. Und genau daran „krankt“ die heutige Kleist-Rezeption. Und die gesamte Gegenwart, trotz ihres pseudovitalen Lärmpegels.

Informationen über die nachfolgenden Teile des Kleist-Projekts:  www.theaterkapelle.de

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