© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Subtile Bombe
Hörbuch: Kurt Tucholskys „New Journalism“
Harald Harzheim

Die Hörbuch-Edition Apollon fiel bislang durch originelle Ausgrabungen auf: Manfred Hausmann, Walter Rheiner, die frühe „Kosaken“-Novelle von Tolstoi – sie alle kamen hier zu neuem Leben. Aber Kurt Tucholsky? Was läßt sich da noch „ausgraben“? Seine Gedichte, Chansons, Satiren und Novellen fehlen in keiner Anthologie, bei keinem Nostalgie-Abend, Tucholsky ist fester Bestandtteil der modernen Zitatkultur, seine Romane werden weiterhin verfilmt. Also, was gibt’s da noch an Unbekanntem?

Nun, wer „New Journalism“ für eine amerikanische Erfindung der Sechziger hält, kreiert von Autoren wie Tom Wolfe, die schräge Reportagen mit literarischem Mehrwert servierten, der könnte Tucholsky jetzt als deren Vorläufer entdecken! Man lese (pardon: höre) nur dessen Beobachtung zur Sklaverei des Telefonierens: Menschen, die man niemals zur Tür reinlassen würde, erhalten am Telefon absolute Priorität. Für jeden x-beliebigen Anrufer läßt man alles stehen und liegen. Was im Zeitalter des totalen Handyterrors gesteigerte Aktualität besitzt.

An anderer Stelle betrauert Tucholsky den Verlust eines Buches mit erotischen Illustrationen. Beim Umzug nach Paris sei es ihm gestohlen  worden. Der Leser  wird um Mithilfe ersucht, Finderlohn  winkt: eine selten subtile Bombe ins Lager der Doppelmoralisten. Und selbst der spätere „Borderline-Journalismus“ findet hier Antizipation, bei Gratwanderungen zwischen Fiktion und (möglicher) Wahrheit: Was tut beispielsweise ein Pfarrer, dem eine Frau  60.000 Francs für eine Platzreservierung im Paradies anbietet?

Surrealistisch wird’s im „Wassersanatorium“, in dem sich das Wasser entspannen kann! Erholen von all der symbolischen Aufladung, mit der Menschen es tagtäglich versehen. Nicht zu vergessen den Zornmonolog eines Mannes, den das Pech verfolgt, um das übermäßige Glück eines Mitmenschen kosmisch auszubalancieren.

Regisseur Tom Blankenberg ist klug genug, Tucholskys Pointen nicht als Schenkelklopfer zu präsentieren. Seine Sprecher (Bodo Primus, Jochen Kolenda und Kordula Leise) lesen beschwingt, ausdrucksstark, aber zwischen den Texthappen spielt ein melancholisches Piano. Und warum nicht? Der Alltag ist ja schließlich auch zum Heulen.

CD: Kurt Tucholsky – Abends nach sechs, Laufzeit 69 Minuten, Beiheft, Edition Apollon, 2011, 14,99 Euro www.edition-apollon.com

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