© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Antideutsche Reflexe
Die Linke verabschiedet sich von der Demokratie: Eine Ergänzung zu Heino Bosselmanns Habermas-Replik
Björn Schumacher

Meinungsbildende Publizistik betreibt der Philosoph Jürgen Habermas, ideologischer Ahnherr der 68er-Generation, mit Hilfe linksliberaler Vorzeigemedien. Lesenswert sind seine großen Essays allemal, auch wenn sie, wie in der Süddeutschen Zeitung vom 8. April dieses Jahres, groteske Fehleinschätzungen deutscher Europapolitik und Widersprüche in den Grundpositionen des Philosophen offenbaren.

So dichtet Habermas dem wiedervereinigten Deutschland eine „stärkere Selbstzentrierung“ sowie einen „unverhohlenen Führungsanspruch“ an und beklagt das als Abkehr von einem „verpflichtenden historisch-moralischen Erbe“. Wer Helmut Kohls gebückten Weg in die Währungsunion und die Deformation der Eurozone in eine Transfergemeinschaft zu Lasten des Steuerbürgers verfolgt hat, staunt über einen solchen Realitätsverlust. Bemerkenswerterweise sind deutsche EU-Kritiker für Habermas „unverbesserliche Nationalisten“ (Bosselmann, JF 17/11) − ein glatter Widerspruch; denn aus seiner Perspektive wandelt sich die EU zu einem Instrument deutscher Führungsgelüste.

Der „Ideengeber zum Aufbau eines friedlichen und freien Europas“, wie Habermas bei der Staatspreis-Verleihung des damals (2006) CDU-regierten Nordrhein-Westfalen gepriesen wurde, hat aber noch ein weiteres Orientierungsproblem. Protagonist der je nach Blickwinkel alt- oder neomarxistischen Frankfurter Schule, beteiligt er sich am klassischen linken Zweifrontenkrieg. Zum einen streitet Habermas wider den Kapitalismus und dessen nach linken Axiomen inhumanes Weltbild. Zum anderen bekämpft er ebenso selbstverständlich den Nationalismus (beziehunsgweise dasjenige, was Linke dafür halten), was im kollektivschuldgebeugten Deutschland auf eine dezidiert nationalstaatsskeptische Position hinausläuft.

Folgerichtig gerät Habermas’ EU-Analyse in ein Dilemma, das Heino Bosselmann treffend beschreibt: „Erreichte die Wirtschaft das, was sie pragmatisch wollte, nämlich eine McDonaldisierung von Markt und Geld, kann die Linke im derzeitigen EU-Europa aber gerade nicht die Fleischwerdung ihrer demokratischen Heilsvorstellungen erkennen.“

 Die Fluchtwege aus dem Dilemma sind überschaubar: Habermas und die deutsche Linke müssen zwischen zwei vermeintlichen Übeln wählen. Entweder sie beharren auf ihrem antinationalen Kurs, dann kommen sie um einen Burgfrieden mit dem globalisierten Kapitalismus nicht herum. Oder sie bekämpfen weiter die Großbanken und -konzerne als Reich des Bösen, dann werden sie den Nationalstaat als unverzichtbaren Verbündeten entdecken und einer Art „linkem Nationalismus“ huldigen müssen.

Eng verzahnt mit dieser Zwangslage schimmert bei Habermas ein weiterer, ebenso fundamentaler Widerspruch durch. Er betrifft sein Demokratieverständnis. Kaum einen zweiten Begriff verwendet Habermas mit so viel Pathos. In seinem SZ-Artikel wirft er der EU eine Dekonstruktion „jeder demokratischen Glaubwürdigkeit“ vor.

Kaum ein zweiter Begriff wirkt bei ihm aber auch so deplaziert. Was meint Habermas überhaupt, wenn er Politiker beschwört, sich endlich „auf den Marktplätzen“ den Bürgern zu stellen? Indem der linke Vordenker sich herkömmlichen staatsphilosophischen Konzepten von Volk und Nation verweigert, verfällt er notwendig einem inhaltsleeren Demokratiebegriff. Dieser mag, „wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel schön sein; schade nur (!), daß er kein Gehirn hat“ (Immanuel Kant über eine Naturrecht und Moral verdrängende, „bloß empirische Rechtslehre“). Ohne Demos gibt es keine Demokratie! Die Bewohner der EU-Staaten mögen sich in Wahlen oder Abstimmungen wie ein Volk verhalten und ein teures, kompetenzarmes, höchst überflüssiges Placebo-Parlament in Straßburg leisten. Demos im Sinne einer Sprach-, Kultur-, Werte- oder Schicksalsgemeinschaft sind sie deshalb noch lange nicht.

Habermas’ „selbstverschuldetes EU-Dilemma“ (Bosselmann) ist eine mittelbare Folge dieses Zwiespalts, weil antideutsche und antidemokratische Reflexe seinen Supranationalismus steuern. Solche Reflexe haben sich längst zum heimlichen Markenkern des neudeutschen Juste milieu entwickelt.

Linke und Linksliberale brillieren mit atemberaubender Verstellungskunst − Mimikry nach dem Vorbild eines Chamäleons! Je lautstärker sie die „unverfrorene Entmündigung der Bürger“ anprangern (Habermas), sich als Lordsiegelbewahrer der Demokratie und der ihr Fundament bildenden Freiheitsrechte aufspielen − im Zweifel „gegen Rechts“ −, desto wütender bekämpfen sie das eigene Volk.

Wohlwollende Kritiker mögen bei den Linken ein Engagement für Menschenrechte und das Rechtsstaatsprinzip entdecken und eine prägnante Vorrangregel des Rechtsphilosophen und ehemaligen SPD-Reichsjustizministers Gustav Radbruch zitieren: „Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat ist aber wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“

Radbruchs Bekenntnis von 1946 galt indes dem Rechtsstaat als Hort elementarer Menschenrechte gegen staatlichen Totalitarismus. Mit der Klientelpolitik des deutschen Linksliberalismus hat das nur am Rande zu tun. Dessen von relativistischem Gleichheitskult geformte „Menschenrechte“ wollen Maximalinteressen ausgesuchter ethnischer, religiöser oder an ihren sexuellen Neigungen erkennbarer Minderheiten durchsetzen. „Menschenrechte“ fungieren hier nicht nur als Abwehrrechte gegen einen repressiven Staat, sie fordern vor allem massive Alimentierungen der betreffenden Minderheit. Resultat: Die staatstragende Mehrheitsgemeinschaft bürgerlicher Steuerzahler muß immer neue Pervertierungen ihrer Kulturwerte nicht nur erdulden, sondern obendrein auch noch unterstützen.

Wie lange kann die deutsche Linke, kann der von ihr drangsalierte breite Mittelstand dieses Dilemma noch aushalten?

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