© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Beredte Stille
Die deutschen Medien haben Ende 2010 einen Appell gegen die Siedlungspolitik Israels ignoriert
Günther Deschner

Die dpa-Meldung vom Dezember letzten Jahres hatte es in sich. Schon der erste Satz machte deutlich, daß es um ein heißes Eisen ging: „Schmidt, Weizsäcker und andere: Eine Gruppe früherer europäischer Spitzenpolitiker hat die EU aufgerufen, im Nahostkonflikt mehr Druck auf Israel auszuüben. Beim nächsten EU-Gipfel müsse Israel ultimativ aufgefordert werden, den Bau von Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten einzustellen, heißt es in einem Brief an die Spitzen der EU und die Staats- und Regierungschefs.“

Noch nie dürften so viele international bekannte Politikgrößen so deutliche Worte zu dem Verhältnis der EU zu Israel gefunden haben, wie die 26 Unterzeichner des Appells – Ex-Präsidenten, Premiers, Minister: Neben Lionel Jos­pin, Felipe Gonzales und vielen anderen Ex-Regierungschefs hatten auch Benita Ferrero-Waldner und Javier Solana sowie Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker unterschrieben. Sie nennen den Siedlungsbau ein „Friedenshindernis“, fordern Israels Regierung auf, Vereinbarungen einzuhalten und verlangen von der EU, die Bildung eines Palästinenserstaates in den Grenzen von 1967 zu unterstützen. Und sie empfehlen „dringend“, die schon im Dezember 2009 verabschiedeten zwölf Schlußfolgerungen der EU zum Nahost-Friedensprozeß voranzutreiben und eine Frist zu setzen, innerhalb derer die Friedensgespräche zu einem Ergebnis führen müßten.

Inmitten der Diskussion über den Zusammenhang von Nahostfrieden und Baustopp für weitere jüdische Siedlungen im Westjordanland Ende 2010 hatte dpa eine große Resonanz auf den „Appell“ erwartet, dessen Volltext zeitgleich mit der Agenturmeldung im Internet veröffentlicht worden war. Im Ausland machte der schroff formulierte Brief auch sofort Schlagzeilen. Israels Qualitätsblatt Haaretz machte ihn zum Aufmacher: „Nach der Stellungnahme prominenter Ex-Spitzenpolitiker zugunsten eines Palästinenserstaats sieht sich Israel einer härteren Linie der EU gegenüber.“ Auch der britische Guardian, die Pariser Le Monde, El Pais und viele weitere Medien berichteten an exponierter Stelle.

In deutschen Medien jedoch, die zu 90 Prozent den dpa-Text erhielten, fand die spektakuläre Nachricht mit Ausnahme der Frankfurter Neuen Presse, die korrekt berichtete, keinen Niederschlag. Daß das Linksblatt Junge Welt die Meldung „Appell der Oldies“ brachte und auch Henryk Broder über eine „Gruppe ausgedienter Politiker“ nörgelte, blieb belanglos: Keine Zeile in Bild, Welt, der Süddeutschen Zeitung und nicht mal in der FAZ, selbst der Zeit nicht, deren Mitherausgeber Helmut Schmidt ist. Die Verknüpfung großer Politikernamen mit dem Thema Israel-Kritik war wohl eine „zu heiße Kartoffel“ für die „Hüter der Pressefreiheit“ in Deutschland.

Doch halt: Eine kam doch durch. Doris Simon, Brüssel-Korrespondentin des Deutschlandfunks, berichtete routinemäßig und wurde auch gesendet. Ansonsten aber Totenstille über den „Appell“ in den GEZ-Medien der Bundesrepublik. Kein Beitrag, kein Interview, kein Kommentar, auch nicht in der Tagesschau der ARD. Journalistisch läßt sich dies gerade wegen der Popularität der Unterzeichner Schmidt und Weizsäcker nicht erklären. Es fehlt ein Grund für das Weglassen oder – er wird nicht genannt. War es absichtliches Verschweigen, ein Fall von Nachrichtenunterdrückung?

Das ist auch der Kern einer Programmbeschwerde, die Rechtsanwalt Engelbert Saggel an die ARD richtete und über die der NDR-Programmausschuß und der Rundfunkrat im Mai berieten. Eine „ausformulierte Entscheidung“ läßt auf sich warten: „Der Grund könnte in einer Intervention zugunsten proisraelischer Interessen, eventuell auch Rücksicht auf die Merkelsche Staatsräson liegen“, heißt es im Beschwerdetext.

Bisher bekam Saggel auf seine „Beschwerde über Nachrichtenmanipulation“ vom Chefredakteur der Tagesschau keine, vom Intendanten des NDR nur „unbefriedigende, ausweichende oder widersprüchliche“ Antworten.

„Es ist schon äußerst ärgerlich, daß gewisse Medienzaren auf die privaten Medien Einfluß ausüben. Bei den Öffentlich-Rechtlichen dürfen wir solche Finten keinesfalls hinnehmen“, kommentierte Saggel gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Schließlich kassierten die Sender für eine wahrheitsgemäße Berichterstattung Milliardenbeiträge.

Auch zu der Chiffre „Politikum“, die in einem Antwortschreiben des Senders auftaucht, äußert sich der Rechtsanwalt kritisch: „Was meint die Tagesschau-Redaktion damit? Welches Verfahren läuft dann ab? Wer hat die Nachricht aussortiert? Da sie bundesweit nicht erschienen ist, glaubt niemand daran, daß die Redaktion die Entscheidung selbst getroffen hat. Wer mußte gefragt werden? Wer hat wen angerufen? Keine Antwort, nur aufgeregtes Abstreiten des Intendanten. Diese beredte Stille gleicht der sizilianischen Omerta.“

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