© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Deutschland und der Libyenkrieg
In der Nato-Falle
Michael Vollstedt

Die Militärintervention der Nato im libyschen Bürgerkrieg brachte den Aufständischen keine schnelle Entscheidung. Wer sie erwartete, irrte doppelt: Denn Gaddafi war in der Lage und entschlossen, sich zu wehren. Und die Intervention folgte Resolution 1973 des Uno-Sicherheitsrats, die den Schutz der Zivilbevölkerung verbessern, aber nicht den Krieg entscheiden sollte.

Die Bundesregierung hielt die Freigabe militärischer Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Uno-Charta von Anfang an für „unausgegoren“ und versagte der Resolution zusammen mit vier weiteren Ratsmitgliedern ihre Zustimmung. Danach hieß es in politischen Kommentaren, Deutschland habe im Sicherheitsrat mangelnde Solidarität mit den Verbündeten bewiesen; mit der Entscheidung, keine deutschen Streitkräfte für den Libyen-Einsatz zur Verfügung zu stellen, sei es in der Nato isoliert. Das erinnert an frühere sicherheitspolitische Debatten über deutsche „Sonderwege“. Eine historische Rückblende hilft, die Frage der Isolierung abseits der Tagespolitik zu beurteilen.

Frankreich, treibende Kraft im Fall Libyen, ist ein Muster für Selbstisolierung. Als 1966 die Nato-Strategie der „massiven Vergeltung“ von der Konzeption der „flexiblen Erwiderung“ und „Vorneverteidigung“ abgelöst wurde, machte Präsident Charles de Gaulle nicht mit. Vor allem weil eine Verteidigung am Eisernen Vorhang, die französische Truppen sofort einbezieht, seinem verteidigungspolitischen Konzept widersprach: Die französische Regierung sollte in einer Ost-West-Krise unabhängig handeln können.

Frankreich zog sich also aus der alliierten Kommandostruktur und Verteidigungsplanung zurück, verjagte die Nato aus Fontainebleau und zog die in Deutschland stationierten Truppen ab. Für den Westen behielt Frankreichs Atommacht aber ihren hohen Wert, weil sie im Abschreckungskalkül der Sowjet­union nicht berechenbar war. Mit der Rückkehr Frankreichs in die militärische Organisation erreichte Präsident Nicolas Sarkozy 2009 die volle Mitwirkung im internationalen Krisenmanagement der Nato.

Die Mäander der deutschen Sicherheitspolitik waren weniger drastisch, nähren aber heute noch Zweifel an Zuverlässigkeit und Zielsetzung Deutschlands. Als in den 1970er Jahren die Verhandlungen über Mutual Balanced Force Reductions (MBFR) festfuhren, wollte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) Zugeständnisse an die Sowjetunion machen. Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) blockierte, weil er Nachteile für den sicherheitspolitischen Status Deutschlands voraussah. Unter Schmidt und dessen Nachfolger Helmut Kohl (CDU) trug er den Nato-Doppelbeschluß zu den atomaren Mittelstreckenwaffen mit. Daneben entwickelte er jedoch eine Sicherheitspolitik – verspottet als „Genscherism“ –, die bewaffneten Konflikten durch ein System internationaler Organisationen und Abkommen vorbeugen sollte.

Folglich stemmte sich die FDP in der Regierung gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, deren Zulässigkeit sie vom Bundesverfassungsgericht klären ließ. Dabei ist das von Internationalität geprägte Grundgesetz unmißverständlich; Artikel 24 läßt sogar die Abtretung von Hoheitsrechten zu. Mit dem Karlsruher Urteil von 1994 endete der deutsche Sonderweg. Fortan war es Konsens, Waffeneinsätze der Bundeswehr, außer im Verteidigungs- und Bündnisfall, nur unter einem Uno-Mandat zuzulassen. Der Einsatz im Kosovokrieg erfolgte ohne Uno-Mandat.

Was Bündnissolidarität aus Nato-Sicht bedeutet, erklärt sich zunächst aus der Konstruktion des Nordatlantikvertrages. Der Artikel 5 definiert den Bündnisfall, enthält aber keine automatische Beistandsklausel; die Verfassung der USA läßt sie nicht zu. Die Nato-Staaten regeln im Bündnisfall ihren Beitrag selbst, sind aber zu abgestimmten Streitkräfteplanungen und gemeinsamen Verteidigungsvorbereitungen verpflichtet. Die Unterstellung von Kampftruppen unter Nato-Kommando erfolgt konditioniert, abhängig von Rechtslage und Sicherheitspolitik des jeweiligen Staates. Angesichts des gewaltigen Militärpotentials im Warschauer Pakt richteten die Bündnispartner ihre Beiträge zur gemeinsamen Verteidigung  jedoch immer darauf aus, einer „großangelegten Aggression“ begegnen zu können.

Dabei stärkte das vertraglich festgelegte Einstimmigkeitsprinzip den Verteidigungswillen der Allianz. In der strategischen Lage heute schlagen vermehrt nationale Sichtweisen und Interessen durch. Ihre Wurzeln reichen meist weit in die Vergangenheit und haben immer mit Innenpolitik zu tun. Manche Beobachter sehen dann den Zerfall des Bündnisses voraus, dem allerdings mehr gemeinsames Nachdenken, bevor nationale Entscheidungen fallen, nützen würde.

Auch praktische Regelungen, die den Vertragskern nicht berühren, können helfen. Für die Soldaten in der Nato-Kommandostruktur und bei der Awacs-Flotte wäre ein internationaler Status wichtig, mit dem sie auf ihren Dienstposten verbleiben, auch wenn ihr Land sich nicht an einem Einsatz beteiligen will. Deutsches Personal wird in solchen Situationen nach dem Prinzip der „kausalen Affinität“ neutralisiert oder abgezogen, was die Funktionsfähigkeit der Nato beeinträchtigt. Im Grunde ist eine Modernisierung des Nordatlantikvertrags nötig, um die Möglichkeiten für „Koalitionen der Willigen“, falls also die Nato nicht als Ganzes handeln will, zu kodifizieren.

Diese Schlaglichter auf nationale und alliierte Sicherheitspolitik zeigen, daß Deutschland sich mit einer einzelnen Absage im Bündnis nicht isoliert. Dagegen würden Sonderwege, die ein Muster der Absonderung erkennen lassen, dem Bündnis und unserem politischen Einfluß schaden.

Das ist gegenwärtig kein Thema, zumal die meisten Nato-Staaten nicht am Kampfeinsatz in Libyen teilnehmen und Deutschland mit Nachdruck harte Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime unterstützt. Deshalb ist es auch die weitaus wichtigere Frage, auf welchen gemeinsamen Prinzipien die Sanktionen, an denen Deutschland beteiligt ist, und das militärische Vorgehen der Nato gegen Libyen beruhen.

Die Bundesregierung hat zusammen mit anderen Regierungen erklärt, Gaddafi sei wegen des brutalen Vorgehens gegen die libysche Protestbewegung nicht mehr zur Führung des Landes legitimiert und müsse zurücktreten. Dem liegen Vorstellungen über Humanität und Freiheitsrechte zugrunde, die schon in der Uno-Charta von 1945 angesprochen werden, aber ohne  Vorschriften zur innerstaatlichen Ordnung  zu machen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 beschreibt ein Ideal, das gemeinsam erreicht werden soll, enthält aber keinen konkreten Plan.

Die Uno ist also nicht als Weltregierung organisiert, für die der Fall Libyen Teil einer Weltinnenpolitik wäre. Auch Artikel 2 und Kapitel VII der Charta, die den sicherheitspolitischen Handlungsspielraum der Uno abstecken, folgen dem Prinzip der Zwischenstaatlichkeit.

Aber der Westen tut sich schwer, bei Entwicklungen wie in Libyen allein auf nichtmilitärische Sanktionen und internationale Gerichtsbarkeit zu setzen; deshalb sollte Resolution 1973 der Zivilbevölkerung stärkeren Schutz geben. Nach der Uno-Charta war dazu eine Bedrohung von Weltfrieden oder internationaler Sicherheit anzunehmen – im Fall Libyen ein gewagtes, folgerichtig aber auf beide Konfliktparteien anzuwendendes Konstrukt: Die Spirale der Gewalt läßt in diesem Bürgerkrieg eine generelle Trennung nach Opfern und Tätern nicht mehr zu.

Zum Beispiel Misrata: Die Behauptung von US-Außenministerin Hillary Clinton, die Gaddafi-Truppen hätten dort menschliche Schutzschilde für ihr Vorrücken mißbraucht, ist einäugig. Die unterschiedslose Beschießung von Kämpfern und Zivilisten war zwar ein Kriegsverbrechen der Belagerer. Aber die Aufständischen kämpften aus der Mitte der Bevölkerung, zogen sie in Mitleidenschaft und verstießen selbst gegen humanitäres Recht.

Und als US-Senator John McCain öffentlich forderte, den Aufständischen die erbetenen Waffen zu liefern, hatten Gaddafis Truppen Grund genug, den von den Verteidigern kontrollierten Hafen zu beschießen. Der Schutz der auf ihre Ausschiffung wartenden Gastarbeiter oblag somit den Aufständischen. Eine Parteinahme nach dem Muster „gut oder böse“ ist sicherheitspolitisch immer unsolide und wäre auch hier unklug.

In Libyen handelt es sich um einen Volksaufstand, den die zuvor international anerkannte Regierung niederschlagen will. Die schon bald eingetretene humanitäre Katastrophe ist als vorhersehbare Kriegsfolge zum größten Teil beiden Seiten, Regime und Aufständischen, zuzurechnen. Die von Resolution 1973 bezweckte Schutzwirkung ließ sich daher schwer kalkulieren. Sie mußte denen gelten, die sich nicht am Aufstand oder seiner Niederschlagung beteiligen, aber trotzdem beschossen, mißhandelt und vertrieben werden.

Das war in der Anfangsphase des Aufstands einfacher als mitten im Bürgerkrieg. Nachdem der Uno-Sicherheitsrat die Verwendung von Bodentruppen ausgeschlossen hatte, ermöglichte sein Mandat nur den Einsatz von Luftkriegsmitteln und zwar hauptsächlich gegen Gaddafis Luftwaffe und deren Fähigkeit zur Bombardierung von Städten sowie gegen die schweren Waffen von Bodentruppen, mit denen rücksichtslos auf Wohnviertel geschossen wird.

Die Nato-Führung wollte die von Resolution 1973 gezogenen Grenzen einhalten, wobei sie über kein ganz zuverlässiges Lagebild verfügte – so war ihr anfangs entgangen, daß auch die Aufständischen über einige schwere Waffen verfügten. Mit einer präzisen Umsetzung der Uno-Vorgaben hätte sie dazu beigetragen, die humanitären Standards in der Völkergemeinschaft zu stärken: Kosovo und Libyen wären eine Warnung, daß keiner Regierung absolute Macht über das Volk zusteht und das Ideal der Menschenrechte mehr als bisher zum politischen Maßstab werden soll.

Die USA, Frankreich, Großbritannien und Italien haben die Resolution unterlaufen, durch Propaganda, einseitige Auslegung des Waffenembargos und Entsendung von „Militärberatern“ zu den Aufständischen; besonders schwer wiegen die Kampfeinsätze ohne Bezug zum Schutz der Bevölkerung, der Angriff auf das Haus mit Sohn und Enkeln Gaddafis eingeschlossen. Die USA und Großbritannien zeigten offen, daß sie den Aufständischen militärisch zum Erfolg verhelfen wollten.

In der arabischen Welt muß dies als Bruch der Resolution 1973 und Beweis für westliche Hegemonialpolitik empfunden werden. Dafür sind zuerst die Interventionsmächte verantwortlich, aber sie ziehen die ganze Nato hinein. Im Uno-Sicherheitsrat ist Mißtrauen gewachsen, inwieweit nichterklärte nationale Interessen die Libyen-Intervention befeuerten.

Zu Syrien, das für den Westen kritischer ist als Libyen, kommt schon keine Uno-Resolution mehr zustande. Sanktionen wurden daher von der EU beschlossen – völkerrechtskonform? Man kann nicht beides haben: Die Vorteile des Völkerrechts und die Privilegien des realpolitisch Stärkeren.

 

Michael Vollstedt, Generalmajor a. D., Jahrgang 1943, war  Kommandeur der 2. Luftwaffendivision, diente im Bundesministerium der Verteidigung und  bis 2000 im Nato-Hauptquartier in Brüssel. Er ist Mitglied der Mölders-Vereinigung.

Foto: Bündnispflicht oder Nibelungentreue: Die Kompaßnadel der Natoländer schwankte im Einsatz gegen das Gaddafi-Regime zwischen Isolation und Intervention

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