© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Richard Wagner, der Revolutionär
Rüdiger Jacobs untersucht die ideengeschichtliche Welt des Bayreuther Jahrhundertkomponisten
Harald Harzheim

Bei einer Exegese von Richard Wagners Musikdramen ist die Kenntnis seiner politischen Schriften unverzichtbar. Die aber stehen an Komplexität dem künstlerischen Werk in nichts nach, so daß sie unterschiedlichste Deutungen und Wirkungsgeschichten provozierten: die von Houston Stewart Chamberlain beispielsweise, der aus Wagners späten „Regenerationsschriften“ eine politische Rassenlehre destillierte. Sein Einfluß auf die NS-Ideologie verführte nach 1945 zahlreiche Kritiker, in Wagner den Ahnherrn Hitlers zu erkennen.

Die andere Linie konzentrierte sich auf den Anarchisten Wagner, Freund Bakunins, Teilnehmer am Dresdner 1849er Aufstand und Verfasser zahlreicher Revolutionsschriften. Vertreten durch George B. Shaw, Hans Mayer und Ernst Bloch, inspirierte sie den Regisseur Patrice Chéreau zu seinem Bayreuther „Jahrhundertring“ 1976. Diesen Exegesestrang bestätigt auch Rüdiger Jacobs in seiner Dissertation über „Revolutionsidee und Staatskritik in Richard Wagners Schriften“. Jacobs detaillierte Darstellung interpretiert die Texte sowohl historisch-biographisch wie systematisch. Von den Ideen, die das Werk kontinuierlich durchziehen, bildet ihm der Begriff des „Metapolitischen“ das Zentrum.

So gelingt es dem Autor, die Einheit des Wagnerschen Theoriewerks aufzuweisen, dessen Staatsfeindschaft sich aus dem Begriff des Politischen ableitet: Er ist das von „oben“ aufgezwungene, individuelle Entfaltung Hemmende. Deshalb müsse der Staat verschwinden, politisches Denken von einem metapolitischen abgelöst werden. O-Ton Wagner: „Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Arme und Reiche teilt.“

Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Karl Marx glaubte Wagner aber nicht an die geschichtliche Rolle des Proletariats, sondern stellte einer Politik der Privilegien, Ausbeutung, Naturzerstörung und des Eigentums das metapolitische „Reinmenschliche“ entgegen. Dieses „Reinmenschliche“, das konträr steht zu jeglichem Überfluß, das Lebens- und Arbeitsbedürfnis des Rousseauschen Naturmenschen, dessen Handeln durch innere „Notwendigkeit“ bestimmt ist – das ist die Anthropologie, aus der Wagner seine Vision der „freien Gesellschaft“ ableitet.

Woher aber weiß der Mensch von seinem, durch Politik noch unkorrumpierten, „natürlichen“ Wesen? Wagners Antwort: Durch den Mythos. Als kollektive Dichtung der Völker ist dessen Unbewußtes darin enthalten. Das, was man Göttern und Helden zuspricht, sei nur Projektion des eigenen, ungenutzten Potentials. Der Künstler aber, der den Mythos wieder ins Werk setzt, erneut erfahrbar macht, ist deshalb zentraler Auslöser künftiger Revolution. Denn das (Wagnerische) Kunstwerk vermittelt nicht nur bewußte Erkenntnis, sondern spricht durch ästhetische Mittel – Text, Musik und Drama – auch das „reinmenschliche“ Unbewußte des Betrachters an.

So ist Wagners Revolution keine mit Bomben und Barrikadensturm, keine, die den Menschen auf Arbeit und Verteilung reduziert, sondern eine „innere“: Durch die Partizipation am Kunstwerk soll der Mensch aus seiner politischen Entfremdung befreit und dem „Reinmenschlichen“ geöffnet werden. Dieser elementare Wille zum „Notwendigen“ wurzelt für Wagner im Weltwillen, den er dem deutschen Idealismus Schellingscher Prägung entlieh. Entgegen zeitgeisttrunkener Politik, Moral und Egoismen öffnet das „Reinmenschliche“ dem Individuum den Zugang zum „Überzeitlichen“, zum universell-dynamischen Weltengrund, in dem der Mensch nach dem Tod wieder aufgeht. Wegen dieser Zentrierung eines zeitlosen Vitalismus hat Rüdiger Jacobs recht, wenn er Wagners Revolution der Seele als eine „konservative Revolution“ und Wagner selbst nicht als Anarchisten, sondern als „Anarchen“ (E. Jünger) bezeichnet.

Für den Künstler Wagner war der Staat ein Vertragswerk, das gegenseitige Unterdrückung und Steigerung des Einzelwillens (Egoismus) fördere. Sein Begriff vom Eigentum ist durch den Anarchisten Proudhon und die romantisch-klösterliche „Nießbrauch“-Regelung inspiriert, orientiert sich an individueller Lebens- und Arbeitsbedürftigkeit: Jedem stehe zu, was er zu seiner Arbeit braucht; das Horten von Besitztümern gilt als völlige Verfehlung.

Wie weit Wagner in seiner Vision des „Reinmenschlichen“ bereit war, den abendländischen Sittenkodex über den Haufen zu werfen, zeigt das – von Jacobs nicht erwähnte – Beispiel der „Walküre“: Der erste Akt zeigt Sieglinde, Frau bzw. Sklavin des Gutsbesitzers Hunding. Als ihr Bruder Sigmund sie aufsucht, entflammt die Liebe zueinander. Diese inzestuöse Leidenschaft ist für Wagner, wie der Inzest des Ödipus, ein Aufstand des Natur-„Notwendigen“, des „Reinmenschlichen“ („Heiligster Minne / höchste Not, sehnender Liebe / sehrende Not“) gegen Repression und Besitzstand. Beider Sohn, der „Anarchist Siegfried“ (G.B. Shaw) erschlägt später den Drachen Fafner, monströse Karikatur eines Kapitalisten („Ich lieg’ und besitz’“, sagt Fafner). Siegfried scheitert zuletzt, weil seine Revolution eine „äußerliche“, gewaltsame bleibt. Wie bei kaum einem anderen Komponisten ist bei Wagner die Kenntnis des Gedankengebäudes zum Verständnis der Musikdramen unerläßlich, selbst nicht unmittelbar politische, sondern tiefenpsychologische Deutungen à la Wieland Wagner finden ihre Wurzel und Legitimation.

Rüdiger Jacobs Studie ist überaus sorgfältig und detailliert, was die Lektüre jedoch nicht zum puren Vergnügen macht: Sein Thema von immer neuen Seiten beleuchtend, einzelne Begriffe  jedesmal im Gesamtkontext abklopfend, ist er zu endlosen Wiederholungen gezwungen. Dennoch ist die Lektüre uneingeschränkt zu empfehlen, bietet sie doch systematischen Überblick auf ein Denksystem, das meist nur als Steinbruch betrachtet wird, aus dem jeder Exeget das ihm passende Zitat entleiht.

Rüdiger Jacobs: Revolutionsidee und Staatskritik in Richard Wagners Schriften. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010, broschiert, 464 Seiten, 39,80 Euro

Foto: Siegfried fordert den Drachen Fafner heraus: Wagner bietet „Reinmenschliches“ gegen Repression und Besitzstand auf

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen