© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Zu den Nebenfolgen der Affäre Strauss-Kahn gehört in Frankreich die Debatte über ein Ende der exception sexuelle – der „sexuellen Ausnahme“. Gemeint ist damit die Tendenz der Bevölkerung, den Eliten – künstlerischen (Roman Polanski zum Beispiel) oder politischen (François Mitterrand zum Beispiel) – jede sexuelle Verfehlung oder Eskapade nachzusehen. Zur Erklärung solcher Großzügigkeit wird regelmäßig auf die Tradition verwiesen. Derzufolge sind die Franzosen seit je toleranter in bezug auf das Geschlechts- und Liebesleben und außerdem sicher, daß der gute Verführer auch ein guter Führer ist. In Deutschland reagiert man zurückhaltend, aber es fehlt nicht viel, daß sich der Unmut regt, gegen welsche Liederlichkeit, das alte Vorurteil, das vielleicht doch ein Urteil war.

Wenn die Wahrheit in die Qualitätsmedien vordringt: „Die Bürger empfinden Ohnmacht gegenüber einem politischen System, dessen Irrlauf nur noch durch eine Katastrophe aufzuhalten ist.“ (Markus C. Kerber, Neue Zürcher Zeitung vom 21. April 2011). „Gold ersetzt sterbendes Papiergeld“ (Holger Zschäpitz, Die Welt vom 21. April 2011). „Die Rechenkunst der Verbrechensstatistiker bleibt im dunkeln, (…) wie immer.“ (Regina Mönch, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. April 2011).

Die Vorsicht bei Kollektivzuschreibungen hat natürlich zu tun mit einer seit Jahrzehnten forcierten Bekämpfung von „Vorurteilen“. Und bedauerlicherweise findet sich kein Verteidiger der Vorurteile mehr, nicht einmal im konservativen Lager, trotz der klugen Worte des großen Edmund Burke: „Sie sehen, mein Freund, daß ich dreist genug bin, um in diesem erleuchteten Jahrhundert frei zu gestehen, daß wir im ganzen eine Nation von ungebildeten Gefühlen sind, daß wir statt alle Vorurteile wegzuwerfen, sie vielmehr mit Zärtlichkeit lieben, und was noch strafbarer sein mag, daß wir sie eben darum lieben, weil sie Vorurteile sind, und nur um so wärmer lieben, je länger sie geherrscht und je allgemeiner sie sich verbreitet haben. Wir wagen es nicht, den Menschen mit seinem Privatvermögen, mit seinem eigenen selbstgesammelten Vorrat von Erfahrung und Weisheit in die geschäftige Szene des Lebens zu werfen, weil dieser Vorrat bei jedem gar unbeträchtlich sein möchte, weil der einzelne unendlich gewinnen muß, wenn er das allgemeine Kapital aller Zeiten und Völker benutzen kann. Viele unserer denkenden Köpfe, weit entfernt im ewigen Kriege mit den Vorurteilen zu leben, wenden ihren ganzen Scharfsinn an, um die verborgene Weisheit, die darin liegen mag, zu erforschen.“

Am 21. Mai jährte sich zum 90. Mal der Sturm auf den Annaberg. Die größte militärische Auseinandersetzung während des Kampfs um Oberschlesien ist heute vergessen. Um so überraschender, daß ein Historiker, Guido Hitze, sich dem Thema mit einer gewissen Ausführlichkeit widmet, davon schreibt, daß das „Komplott von Oberschlesien“ vor allem auf die Drahtziehereien Frankreichs zurückzuführen war, das Polen um jeden Preis stärken wollte, und auch ausdrücklich betont, daß die politische Korrektheit Ursache dafür ist, daß das Thema von den Kollegen gemieden wird und sie alles herunterspielen, was die Siegermächte – des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs – in ein schlechtes Licht rücken könnte.

Nur ganz ohne deutschen Sündenbock kommt auch Hitze nicht aus. Dafür eignen sich seit je die Freikorps, insbesondere das „berühmt-berüchtigte“ Oberland, das mit dem Sieg am Annaberg der „SA von Adolf Hitler“ einen Gründungsmythos lieferte. Es ist hier nicht der Ort, ausführlich zu werden. Hingewiesen sei aber doch auf den Idealismus und die Risikobereitschaft, die dazu gehörten, sich trotz der Feindseligkeiten und der massiven Behinderung durch deutsche Stellen vom Reichsgebiet nach Oberschlesien durchzuschlagen, wohl wissend, daß kein Dank zu erwarten stand für die Verteidigung der Grenzen; und hingewiesen sei auch auf das Schicksal zweier Oberländer, das unterschiedlicher kaum sein konnte und insofern etwas Vorsicht lehrt bei der Einschätzung von Ereignissen und Persönlichkeiten eines revolutionären Zeitalters: Josef „Beppo“ Römer, Stabschef des Freikorps am Annaberg, später „Nationalbolschewist“ und aktiver Gegner Hitlers, mehrjährige KZ-Haft, dann Organisator eines Widerstandskreises, der 1944 sein Leben unter dem Fallbeil ließ, und Friedrich Weber, Chef des „Bundes Oberland“, Teilnehmer am Hitler-Putsch, in der NS-Zeit „Reichstierärzteführer“, nach 1945 von den Amerikanern interniert – Ernst von Salomon hat ihm im „Fragebogen“ ein Denkmal gesetzt, als dem Mann, dessen persönliche Integrität über jeden Zweifel erhaben war und dem man deshalb die Aufteilung der Hungerrationen anvertraute.

Erinnerung an einen frühen Sieg: „W., Sie wollen ja bloß an Ihren Vorurteilen festhalten.“ – „Und Sie wollen, daß ich meine Vorurteile durch Ihre ersetze.“ (Gespräch an einem westdeutschen Gymnasium, erste Hälfte der 1970er Jahre).

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 10. Juni in der JF-Ausgabe 24/11.

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