© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

Bildung schlägt Biologie und Herkunft
Paradoxe Lehren aus Sarrazins Kritik: Mehr potentielle Intelligenz importieren
Detlef Naumann

Rückschauend betrachtet, traf Thilo Sarrazins Millionenerfolg „Deutschland schafft sich ab“ auf eine wesentlich positivere wissenschaftliche Resonanz als das sofort einsetzende Sperrfeuer gegen seine angeblich „biologistische“ Argumentation vermuten ließ. Diese Bilanz gilt allerdings nur für die Sozial-, nicht für die Human- und Naturwissenschaften.

Denn gegen seine eher untergeordnete, aber wildeste Aufregung entfachende These über die genetisch bedingt niedrigeren Intelligenzquotienten einer rasant sich vermehrenden muslimischen Unterschicht machten Humangenetiker und Evolutionsbiologen bereits mobil, als die erste Auflage von Sarrazin noch auf dem Weg in die Buchhandlungen war. Zwar wirkte deren Begrifflichkeit, die dem Finanzexperten biologischen Nachhilfeunterricht vermitteln sollte, auffällig diffus, wenn sie bestritten, daß es zwischen „Populationen“, „Volksgruppen“, „Ethnien“ oder „Rassen“ keine markanten genetischen, folglich auch keine genetisch determinierten Intelligenz-Differenzen gebe. Aber die schwankende Terminologie tat dem diskursiven Punktsieg über einen „naturwissenschaftlichen Analphabeten“ keinen Abbruch. Wie die seitdem andauernde Diskussion unter Intelligenzforschern, Medizinern, Pädagogen und Demographen jedoch zeigt, brachen sich Sarrazins Ansichten trotzdem mühelos Bahn, ohne daß sie einer genetischen Stütze bedurft hätten.

Tatsächlich, so konzedierten Bildungsforscher, sei nicht erst mit Hilfe großflächiger Pisa-Studien die von Sarrazin benannte Gefahr gesellschaftlicher Verdummung, geistiger Verarmung, abnehmender Intelligenz zu registrieren. Unbestreitbar sei dieser drohende Abstieg auch der Unterschichten-Invasion aus Vorderasien anzulasten, die der multikulturelle Utopismus den Deutschen als „kulturelle Bereicherung“ verkaufte.

Dabei wies keine andere Zuwande­rergruppe in Europa, so zitierte man eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), ein schlechteres Bildungsniveau auf als die Muslime in der Bundesrepublik. Abgesehen von unbelehrbaren Immigrationisten wie Klaus J. Bade (JF 21/11) wollte plötzlich kein ernsthafter Wissenschaftler mehr gegen Sarrazin den ganzen Rattenschwanz der an dieser Bildungs- und Integrationsmisere hängenden Probleme in Abrede stellen – von „Parallelgesellschaften“ und grassierender Ausländerkriminalität bis zum massenhaften Sozialbetrug.

In dem Maß wie Sozialwissenschaftler Sarrazins Analysen bestätigten und zugleich das komplette Versagen staatlich alimentierter „Migrationsforschung“ vom Typus Bade erkennen ließen, in dem Umfang gestanden Genetiker ihm sogar zu, mit seiner Behauptung, Intelligenz sei zu 50 bis 80 Prozent erblich, nur den aktuellen Forschungsstand referiert zu haben. Gleichwohl ist der Pferdefuß dieser generösen Akzeptanz unübersehbar. Denn dem SPD-Mann vielfach zustimmend, werden zugleich eifrig alte Stellungen befestigt.

Natur- und Sozialwissenschaftler sind sich gegen Sarrazin darin einig, ihm auf biologischem Terrain nicht nachzugeben. Fast dogmatisch verficht man das Postulat vom homogenen Intelligenzpotential des Menschengeschlechts. Soweit bei muslimischen Migranten erhebliche Intelligenzvarianzen im Vergleich zu Mitteleuropäern feststellbar seien, sei der Rückstand ausschließlich kulturell und sozial bedingt.

Türken oder Libanesen, so unisono der Humangenetiker André Reis und die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, hätten bislang nur zu wenig Chancen gehabt, ihr Potential abzurufen. Mithin sei nicht ihr Zuzug zu stoppen, um das „natürliche“ Reservoir gesellschaftlichen Intelligenzschwundes auszutrocknen, wie Sarrazins „genetische These“ nahelegt, sondern die Migration eher noch zu forcieren, um möglichst zahlreich unerschlossenes Potential ins Land zu holen und in Humankapital zu verwandeln.

Dazu genüge es, stärker als bisher in Bildungsförderung zu investieren. Der große Anteil, den die Genetik „ererbter Intelligenz“ einräume, stelle dafür kein Hindernis dar. Denn Intelligenz werde durch mehrere genetische Funktionen in jeder Nachkommenschaft neu kombiniert. Sonst könnten weniger begabte Eltern keine hochbegabten Kinder bekommen. Wie unzähligen Studien allein der letzten Monate zu entnehmen ist, folgen die Forscherkarawanen solchem Bildungsoptimismus.

Bildung schlägt nicht nur Biologie, sondern auch soziale Herkunft, verkündet etwa Benjamin Kuntz (Universität Bielefeld). Er fand heraus, daß „Bildungsaufsteiger“ – aus der Unterschicht stammende Gymnasiasten – in ihrem Gesundheitsverhalten, beim Rauchen oder beim Alkoholkonsum, sich nicht länger am Elternhaus orientieren, sondern an asketischen Klassenkameraden bildungsbürgerlicher Abkunft (Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 2/11).

Ähnliche Perspektiven eröffnet die Psychologin Ariane von Goldammer (Universität Hildesheim). Sie erforscht die Ursachen jener gravierenden Schwierigkeiten, die 20 Prozent der Viertkläßler beim Lesen und Rechtschreiben plagen. Um eine frühe Diagnose bei Kita-Zöglingen bemüht, weist sie bei Ausländerkindern nach, daß deren Mehrsprachigkeit ein hoher „Risikofaktor“ für den deutschen Schriftspracherwerb sei. Sie hätten bereits vor der Einschulung schlechtere Startbedingungen, zeigten Defizite in Wortschatz und Grammatik sowie „signifikant schwächere Satzgedächtnis-Leistungen“.

Mit mangelnder Intelligenz habe das nichts, auch mit ihrem „Migrationshintergrund“ wenig, aber sehr viel mit „sozioökonomischer Benachteiligung“ zu tun (Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 1/11). Man muß kein Prophet sein, um vorherzusagen, in welche Entwicklung Sarrazins Kritik des Migrationsprojekts in den Händen derart wissenschaftlich legitimierter Sozialreformer und Bildungspolitiker umschlagen wird, die „Benachteiligungen“ abbauen wollen. Haben doch Ableger der „Antidiskriminierungspolitik“ nach US-Muster schon in diversen EU-Richtlinien zur Förderung „rassisch“ und „ethnisch benachteiligter Minderheiten“ Eingang gefunden.

 

Deutschland schafft sich ab

In seinem Buch beruft sich sich Thilo Sarrazin unter anderem auf den englischen Naturforscher Francis Galton (1822–1911), einen „Vater der frühen Intelligenzforschung“, auf den deutschen Psychologen und Erfinder des Intelligenzquotienten Wilhelm Stern sowie die Psychologen Elsbeth Stern und Jürgen Guthke („Perspektiven der Intelligenzforschung“, 2001), außerdem auf eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen in den USA. Sarrazin schreibt, „ganz gleich, wie die Intelligenz zustande kommt: Bei höherer relativer Fruchtbarkeit der weniger Intelligenten sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Grundgesamtheit. Das ist in Deutschland gegenwärtig und in der alten Bundesrepunblik schon seit längerem der Fall. (…) Generell kommen verschiedene Untersuchungen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die gemessene Intelligenz stark mit der Schichtzugehörigkeit korreliert.“ Die Schichtabhängigkeit des generativen Verhaltens in Deutschland sei als „stabiler Trend empirisch belegt“, ebenso, daß zwischen Schichtzugehörigkeit und Intelligenzleistung „ein recht enger Zusammenhang besteht“.

Foto: Kopftuchmädchen an der Tafel: „Sozioökonomische Benachteiligungen“ sollen das Schulversagen muslimischer Einwanderer entschuldigen

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