© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

„Was die Welt den Deutschen verdankt“
Kaum einer weiß, was für eine „überragende Rolle“ die Deutschen in der Geschichte gespielt haben, so der Kulturhistoriker Peter Watson. Um endlich darüber aufzuklären, hat er nun ein monumentales Werk geschrieben: „Der deutsche Genius“
Moritz Schwarz

Herr Watson, was ist der „deutsche Genius“?

Watson: Mir scheint, er hat viele Facetten: Deutschland war etwa das erste Land der Welt mit einer solide gebildeten Mittelschicht. Großbritannien hatte zwar Oxford und Cambridge sowie die schottischen Hochschulen, Deutschland aber hatte zur gleichen Zeit schon etwa fünfzig Universitäten. Natürlich waren viele davon sehr klein, aber sie bildeten die Basis dafür, daß die Intelligenz Ihres Landes die Möglichkeit hatte, zu voller Blüte zu gelangen. Nicht zu vergessen auch das Konzept der Einheit von Forschung und Lehre, eine deutsche Idee, die überall enormen Einfluß gewann. Zunächst auf die Geisteswissenschaften allgemein, später wurde sie aber auch auf die „harten“ Wissenschaften übertragen. Dadurch erst entstand unsere moderne Auffassung von Forschung – einem der grundlegenden Aspekte der Moderne. Aber auch die Revolution in der Medizin, der Biologie, der Physik, überall dort waren die Deutschen absolut überragend. Sogar die Idee der Evolution hatten sie schon lange vor Darwin. Gut, sein Beitrag war, das Prinzip der Selektion zu formulieren, die zur Grundlage für die moderne Evolutionstheorie geworden ist. Aber die Idee an sich war schon lange vor ihm in Deutschland und übrigens auch in Frankreich aufgekommen.

Sie sind Brite, was ist mit dem Genius Ihrer eigenen Nation?

Watson: Wir wissen doch alle längst Bescheid über den britischen Empirismus, den amerikanischen Pragmatismus, die französische Aufklärung. Die Besprechungen meines Buches in England und den USA haben dagegen erneut gezeigt, kaum einer weiß, welch überragende Rolle die Deutschen gespielt haben.

Inwiefern?

Watson: Viele Angelsachsen schauen bezüglich Deutschland nicht weiter zurück als bis zum Dritten Reich. Vor allem die Briten sind geradezu besessen vom Zweiten Weltkrieg. So ist eine Disbalance in Sachen Vergangenheitsbewertung entstanden, bei der der deutsche Genius natürlich keine faire Chance hat. Ich möchte die Balance wiederherstellen. Ich möchte, daß meine angelsächsischen Leser verstehen, wieviel es da zu entdecken gibt, wenn man nur die Augen aufmacht.

Also ist die deutsche Übersetzung Ihres Buches nur ein Nebenprodukt?

Watson: Ganz und gar nicht, denn zum Teil bin ich auch von meinen deutschen Freunden beeinflußt, die oftmals ebenfalls nicht viel weiter als bis 1933 zurückschauen – nicht nur wir Briten haben dieses Problem. Aber es kann doch nicht immer nur um das Dritte Reich gehen – womit ich jetzt natürlich nicht den Holocaust leugnen will! Aber nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte des Eisernen Kreuzes, das Ihr Land vor ein paar Jahren wiedereinführen wollte, dann aber entschied, es nicht zu tun. Wenn man sich einmal unvoreingenommen mit der Geschichte des Eisernen Kreuzes beschäftigt, stellt es sich als Orden dar, der auf eine lange und bedeutungsvolle Geschichte zurückblicken kann, und ich sehe keinen Grund, warum er nicht hätte wiedereingeführt werden sollen. Kurz, mein Buch habe ich gegen die Ignoranz und Unwissenheit geschrieben – gegen die in der anglophonen und frankophonen Welt, aber auch gegen die der Deutschen gegenüber ihrer eigenen Geschichte. Ich glaube sogar, daß mein Buch den Deutschen sehr viel zu sagen hat, weil es ihnen viel über sich selbst verraten wird.

Ihr Buch schmeichelt den Deutschen. Bei der Lektüre stellt sich fast automatisch ein Bedauern über das Verschwinden dieser traditionellen deutschen Kultur zugunsten des heutigen Kosmopolitismus ein. Und als politisches Fazit drängt sich förmlich auf: Der einzige Weg, diese zu bewahren, ist die nationale Form zu stärken.

Watson: Nein, man darf nicht in seiner Vergangenheit verhaftet bleiben, im Guten so wenig wie im Bösen. Ebensowenig, wie sie sich nicht auf das Dritte Reich fixieren sollten, dürfen die Deutschen ins Lamentieren darüber verfallen, wie sehr sie die Epoche des aufkommenden deutschen Genius vermissen. Statt dessen sollte Ihr Land seine Zukunft anpacken!

Fürchten Sie nicht, den deutschen Nationalismus zu protegieren?

Watson: Nein.

Warum nicht?

Watson: Ich glaube, die Dinge haben sich gewandelt, ich bin einfach nicht besorgt über einen neuen deutschen Nationalismus. Wenn ich in Hamburg in den Zug steige, könnte das ebenso in einer englischen Stadt sein. Ich sehe keine Unterschiede mehr: Die Norddeutschen sind doch genau wie wir Briten, ihre Kleidung, ihre Gesten, ihr Verhalten, lediglich ihre Sprache ist Deutsch. Finden denn Sie die Deutschen von heute sonderlich nationalistisch?

Ich frage Sie.

Watson: Also ich nicht.

Ist es gut oder schlecht, daß es zwischen Deutschen und Briten offenbar keine Unterschiede mehr gibt?

Watson: Es ist vor allem, wie es ist. Es ist das Ergebnis unserer Geschichte. Und je mehr wir übereinander wissen, desto besser. Es ist aber bedauerlich für uns Briten, daß – wie Umfragen belegen – die gebildeten Deutschen mehr über Großbritannien wissen als die gebildeten Briten über Deutschland.

Sind alle gleich, verschwindet allerdings der spezifische Genius, den Sie so preisen.

Watson: Das ist eine alte Furcht. Aber es ist unausweichlich, daß wir immer ähnlicher werden, je mehr Bildungsaustausch wir haben und je mehr wir durch gemeinsame Technologie geprägt werden.

Dann ist Ihr Buch ein Grabstein?

Watson: Nein, es gibt immer Raum für Unterschiede, und es gibt nach wie vor eine lebendige Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsszene in Deutschland.

Gibt es heute noch einen deutschen Genius?

Watson: Gute Frage! Nun, wer bezahlt denn derzeit für Griechenland, wer für Irland, wer hat bis 2009 mehr exportiert als China und heute noch mehr als Japan und die USA? Die Deutschen! Ja, ich glaube, da ist immer noch etwas. Vielleicht muß ich mal klarstellen: Wenn ich über den deutschen Genius spreche, dann meine ich damit nicht etwas Mystisches oder etwas Genetisches, sondern die Art und Weise, wie die Deutschen sich organisieren. Gehen sie zum Beispiel mal ins „Kulturkaufhaus Dussmann“ an der Berliner Friedrichstraße, eine der großen Buchhandlungen in Ihrer Hauptstadt. Dort gibt es eine große Abteilung Philosophie und zudem eine ganze Wand mit Werken der Philosophie als Hörbuch. Das ist unvorstellbar in England oder den USA – so ein Angebot findet sich in einer angelsächsischen Buchhandlung einfach nicht. Ihr Deutschen organisiert Euch bis heute auf ganz andere Art und Weise als der Rest der Welt.

Dann ist Ihre Geschichte des deutschen Genius noch nicht vollendet?

Watson: Wohl kaum.

Ihr Buch beschreibt eine Epoche weltweiten deutschen Einflusses. Diese Epoche ist allerdings zweifellos vorüber.

Watson: Das stimmt nur teilweise: Lassen Sie sich nicht täuschen, die Amerikaner etwa sprechen zwar englisch, aber sie denken deutsch. Tatsächlich sind die USA sogar eine sehr deutsche Nation.

Was meinen Sie damit?

Watson: Die Organisation der Amerikaner ist sehr stark deutsch inspiriert: Der amerikanische Hang zu harter Arbeit, zur Gründlichkeit, zum abstrakten theoretischen Denken, all das teilen sie mit den Deutschen. Kein Wunder – es sind mehr Amerikaner europäischer Abstammung deutschen Ursprungs, als englischer Abkunft. Wenn ich zum Beispiel in die USA komme, fühle ich mich – vielleicht außer in den Neuenglandstaaten – wie in einem fremden Land. Und das, obwohl sie dort alle Englisch sprechen. Eindeutig sind die Amerikaner intellektuell viel näher an Deutschland als an Großbritannien.

Sie sprechen davon, daß die Welt den Deutschen eine „dritte Renaissance“ verdanke – was nur leider kaum jemand wisse.

Watson: Das, was sich in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ereignet hat, war eine kulturelle Erweckung, die sich ohne weiteres mit der der Renaissance vergleichen läßt. Ihren Beginn kennzeichnet die Arbeit Johann Joachim Winckelmanns, des Begründers der Archäologie und modernen Kunstgeschichte, die ein Wiedererwachen des Interesses an der Antike in allen Künsten auslöste. Ich würde sogar den Vergleich machen, daß Mozart, Beethoven und Haydn, die drei großen Komponisten des späten 18. Jahrhunderts, absolut vergleichbar sind mit Raffael, da Vinci und Michelangelo, den drei großen Malern der italienischen Renaissance.

Der die Historiker inzwischen eine französische Renaissance im 12. Jahrhundert an die Seite stellen.

Watson: Und so wie die große italienische Renaissance durch die Gründung der römischen Universität La Sapienzia geprägt war, so ist es diese „deutsche Renaissance“ durch die Gründung der Berliner Universität im frühen 19. Jahrhundert, die eine neue Blüte der Gelehrsamkeit auslöste, die schließlich in die Entwicklung der modernen Wissenschaft und Forschung sowie zahlreicher moderner Errungenschaften und wissenschaftlicher Durchbrüche mündete. Ähnlich wie die italienische Renaissance im 16. Jahrhundert in die erste wissenschaftliche Revolution mit den Errungenschaften und Erkenntnissen Galileos, Newtons oder Keplers mündete. Das gleiche erleben wir also im Deutschland des 19. Jahrhunderts, nur daß diese deutsche Renaissance bei weitem mehr Einfluß auf unser tägliches Leben hat als die des 16. Jahrhunderts: Galileo, Newton, Kepler revolutionierten zwar unser Weltbild, die deutsche Renaissance aber führte zu einer Revolution der praktischen Welt, führte in Landwirtschaft, Medizin, Technologie zu den Durchbrüchen, die unsere moderne Gesellschaft ermöglicht haben. Der deutsche Genius hat der Welt also nicht weniger als eine dritte Renaissance und eine zweite wissenschaftliche Revolution geschenkt.

Warum ist dieser offenbar so fundamentale Umstand weder der Welt noch den Deutschen selbst bewußt?

Watson: Ich bin der Überzeugung, daß als Folge all dieser Entwicklungen das 20. Jahrhundert wohl das deutsche Jahrhundert geworden wäre – wäre nicht das Dritte Reich gekommen. Das hat den Namen Deutschlands in der Welt ruiniert und dafür gesorgt, daß Ihr Land nicht mit Renaissance, Wissenschaft und Fortschritt in Verbindung gebracht wird, sondern mit Krieg und Verbrechen.

Deutscher Genius versus Holocaust?

Watson: Tja, wenn ich diesen extremen Gegensatz in der deutschen Geschichte schlüssig erklären könnte – ich wäre ein reicher Mann! Ein Ansatz ist wohl der Umstand, daß Darwin in Deutschland noch populärer war und mehr gelesen wurde als in Großbritannien. Ein Ergebnis dessen war, daß auch die Bastardisierung von Darwins Denken in Deutschland mehr um sich griff als bei uns in England. Dies fiel zusammen mit den Pogromen in Rußland, die viele Juden nach Westen trieben und zu einem Anschwellen der jüdischen Bevölkerung etwa in Berlin und Wien führten. Beides kulminierte in einer neuen Welle des Antisemitismus, der schließlich im spezifischen Antisemitismus der Nationalsozialisten mündete.

Waren die Nationalsozialisten Teil der deutschen Renaissance oder ihr Widerspruch?

Watson: Bei jeder Art von intellektueller Revolution tauchen Leute auf, die mit ihr schwimmen, aber dabei nicht den Kopf über Wasser haben. Die die neuen Gedanken in das Gerüst ihrer eigenen Auffassungen pressen. Hitler ist ein gutes Beispiel dafür, allerdings längst nicht das einzige. Deutschland kam schließlich wegen ihm und seiner Verbrechen und wegen zweier Weltkriege international aus der Mode, dennoch gibt es bis heute mehr deutschen Einfluß, als die Leute glauben, er ist nur nicht zu sehen, eben weil er aus der Mode gekommen ist und man ihn weder herausstellt, noch danach sucht. Hätte Hitler nicht „stattgefunden“, ich bin überzeugt, daß die Welt sich dessen bewußt wäre, was sie bis heute den Deutschen verdankt.

 

Peter Watson: „Kolossal und heroisch“ nennt es der britische Guardian, einen „1.000seitigen Liebesbrief an den deutschen Intellekt“ der amerikanische New Yorker. Peter Watsons Ende 2010 bei Bertelsmann erschienenes Opus magnus „Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI.“ stellt die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, auf den Kopf: Die Deutschen nicht als Nachzügler der Moderne – Stichwort „verspätete Nation“ – , sondern als deren Erfinder: „Wir sprechen englisch, aber denken deutsch“, so Watsons Fazit.

Bereits 2001 machte der Journalist und Kulturhistoriker, Jahrgang 1943, mit „Das Lächeln der Medusa“, einer Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, auf sich aufmerksam. Watson lehrte bis 2007 an der Universität Cambridge und schrieb für zahlreiche Blätter wie Times, New York Times, Observer, Spectator oder den Punch. Außer für seine kulturgeschichtlichen Studien ist der Autor übrigens auch als Krimischriftsteller bekannt.

 

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