© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Am Ende seiner Tage
Prozeß: Der 92 Jahre alte ehemalige Leutnant Josef Scheungraber kämpft nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft um seine Freiheit
Klaus Hammel

Während der 91 Jahre alte Ukrainer John Demjanjuk (JF 21/11) nach seiner Haftentlassung in ein bayerisches Altenheim gezogen ist, kämpft in Bayern ein anderer alter Mann um seine Freiheit. Mit allen juristischen Mitteln versucht der mittlerweile 92 Jahre alte ehemalige Wehrmachtsleutnant Josef Scheungraber zu verhindern, daß er seine letzten Tage im Gefängnis verbringen muß. Scheungraber war 2009 vom Landgericht München I wegen der Ermordung von Zivilisten im Sommer 1944 im italienischen Weiler Falzano, unweit der Stadt Cortona in der Toskana, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Der Fall hatte in den Medien große Aufmerksamkeit erregt, weil er als einer der letzten „Kriegsverbrecherprozesse“ galt. Nachdem die Revision durch den Bundesgerichtshof (BGH) im Oktober 2010 verworfen worden war, kämpfen die Anwälte Scheungrabers seither darum, den Greis, der in die Pflegestufe 2 eingeordnet und fast erblindet ist, vor dem Vollzug der in diesem Fall im Wortsinn „lebenslangen“ Freiheitsstrafe zu bewahren.

Da wie im Fall Demjanjuk die betreffenden Ereignisse schon Jahrzehnte zurückliegen, ist es notwendig, einige Fakten in Erinnerung zu rufen. Scheungraber war zusammen mit seinem ehemaligen Bataillonskommandeur Major Herbert Stommel 2006 in Italien in einem nach deutschen Rechtsvorstellungen rechtswidrigen Verfahren in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Prozeß in München gegen Scheungraber begann im September 2008, der Angeklagte war zu diesem Zeitpunkt 90 Jahre alt. Nach 40 Verhandlungstagen wurde im August 2009, 65 Jahre nach dem Geschehen, das Urteil gesprochen. Gegen Stommel, der nicht verhandlungsfähig war und vor einigen Monaten verstorben ist, erging kein Urteil.

Das Landgericht sah es als erwiesen an, daß Leutnant Scheungraber nach der hinterhältigen Ermordung zweier seiner Soldaten in Falzano durch Partisanen aus persönlichen Beweggründen (Rache, Wut) unter Umgehung seines Bataillonskommandeurs bei dem für die Genehmigung zuständigen Divisionskommandeur eine Repressal- oder Vergeltungsaktion „erwirkt“ habe. Der Divisionskommandeur habe wiederum unter Umgehung des Dienstweges (Stommel wurde angeblich nicht in die Befehlskette einbezogen) die Vergeltungsmaßnahme genehmigt und die nötige Unterstützung gewährt. Der Divisionskommandeur habe dies getan, ohne daß dafür ein militärischer Grund gegeben gewesen wäre, beispielsweise das Ausschalten einer Partisanengefahr im rückwärtigen Gebiet oder die Abschreckung vor weiteren Anschlägen, lautete der Vorwurf. Implizit ist aus dem Urteil zu folgern, daß der Divisionskommandeur, den Rache- und Wutmotiven Scheungrabers Raum gebend, sich dabei auch über einen Einsatzvorbehalt des Kommandierenden Generals des vorgesetzten Armeekorps für den Einsatz von Pionieren hinweggesetzt habe.

Jeder Jurist wird der Behauptung zustimmen, daß ein Tatgeschehen, je länger es zurückliegt, desto weniger wahrscheinlich sachgerecht aufzuklären ist. Nur in Deutschland werden angebliche oder tatsächliche Kriegsverbrechen, und auch nur die der eigenen Seite, über 65 Jahre nach der Tat noch verfolgt. Fehlende Geständnisse, wenig zuverlässige Zeugen, vernichtete schriftliche Dokumente und die Wirren des Krieges, wie bei diesem Geschehen noch dazu in einem Partisanenkampf, schließen einen Aufklärungsprozeß, der zu einem „gerechten“ Urteil führt, nahezu aus. Diese Einschränkungen gelten für alle Tathypothesen, auch die der Verteidigung.

Weiter massive Zweifel am Tathergang

Bei militärischen Fachleuten werden schon beim Tatverlauf, den das Landgericht seinem Urteil zugrunde gelegt hat, heftige Zweifel aufkommen. Es gibt vielmehr Hinweise darauf, daß dieser Tatverlauf ausgeschlossen werden kann. Das Pionierbataillon, dem die Kompanie Scheungraber angehörte, war erst am Tage des Partisanenüberfalls der 15. Panzergrenadier-Division, die auch für den Raum Cortona zuständig war, unterstellt worden. Der exakte Zeitpunkt der Unterstellung konnte nicht festgestellt werden. Der Divisionskommandeur wußte also gar nicht, wer Scheungraber war. Die Division übergab zudem an diesem Tag ihren Einsatzraum an eine andere Division, während sie gleichzeitig den Raum einer dritten Division zu übernehmen hatte. In wohl keiner Armee der Welt würde sich in einer solchen unübersichtlichen Lage ein Divisionskommandeur vor die persönlichen Beweggründe eines ihm unbekannten Leutnants spannen lassen (ohne einmal die Frage zu stellen: „Was sagt denn Ihr Bataillonskommandeur dazu?“), knappe Kräfte dafür freistellen und dann diesem Leutnant ohne weitere Kontrolle für die Umsetzung „freie Hand“ geben. Der vom Landgericht unterstellte Tatverlauf ist während des Prozesses mit den militärischen Gutachtern überhaupt nicht erörtert worden.

Die Anwälte Scheungrabers haben ihr Revisionsverlangen überwiegend mit rechtlichen und verfahrensrechtlichen Mängeln begründet. Dies war wohl angebracht, wenn man die Aufgabe des BGH als höchstes deutsches Strafgericht bedenkt: Der Überprüfung des BGH als letzter Instanz unterliegt, etwas vereinfacht ausgedrückt, im wesentlichen die Frage, ob das Urteil der vorherigen Instanzen rechtsfehlerfrei zustande gekommen ist. Dem BGH ist eine eigene Beweiswürdigung versagt, es kann allerdings bewerten, ob die Beweisführung nicht in sich widersprüchlich oder unlogisch war.

Der Beschluß des BGH vom 25. Oktober 2010, mit dem der Revisionsantrag zurückgewiesen wurde, läßt die Frage aufkommen, ob der Gerichtshof bei einem solchen Verfahren nicht intellektuell, fachlich und moralisch überfordert war. Deswegen ist anzunehmen, daß eine Rüge der Beweisführung und der Beweiswürdigung des Landgerichts auch zu keinem anderen Ergebnis geführt hätte.

An mehreren Stellen seines Beschlusses behauptet der BGH, der Verurteilte habe bei seinem Bataillonskommandeur, nicht also beim Divisionskommandeur, die Vergeltungsmaßnahme erwirkt (der BGH wählte die Formulierung, er habe ihn dazu „angestiftet“) und dieser habe sie daraufhin angeordnet. Mit seiner Formulierung widerlegt der BGH nicht nur das Landgericht – dieses hatte wegen einer Reihe angeblich überzeugender Fakten eine Beteiligung Stommels ausgeschlossen, Scheungraber war der „Alleintäter“ –, sondern entzieht ihm sozusagen den Boden. Dennoch wurde das Urteil der ersten Instanz in vollem Umfang bestätigt.

Gemeinderäte reisen nach Falzano

Weil der Beschluß des BGH nicht mehr anfechtbar ist, blieb den Anwälten Scheungrabers nur übrig, eine Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zu richten. Zu prüfen sei, ob das Urteil beziehungsweise seine Vollstreckung nicht als unmenschlich und als ein Verstoß gegen die Würde des Menschen einzuordnen wäre. Im Falle des ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker hatte das Berliner Verfassungsgericht wegen des hohen Alters und des Gesundheitszustandes des Beschuldigten ein Strafverfahren ausgeschlossen. Ein Beschuldigter dürfe nicht „zum bloßen Objekt staatlicher Gewalt“ herabgewürdigt werden.

Im Fall Scheungraber war es aus formellen rechtlichen Gründen zunächst nötig, der Verfassungsbeschwerde eine sogenannte „Anhörungsrüge“ an den BGH vorzuschalten. Diese Rüge, eingelegt im November 2010, wurde erwartungsgemäß vom BGH am 14. Dezember 2010 zurückgewiesen. Hätte der BGH dieser Rüge stattgegeben, hätte er sich selbst widerlegen müssen. Immerhin gesteht der BGH zu, daß es sich bei der Änderung „Bataillonskommandeur“ anstelle „Divisionskommandeur“ um ein angeblich offensichtliches „Fassungsversehen“ gehandelt habe. Mit dem Einräumen eines Fassungsversehens gegenüber den Prozeßbeteiligten, so könnte man argumentieren, ist doch wieder alles zurechtgerückt. Der Beschluß des BGH vom Oktober 2010 wurde aber in einer längeren Pressemitteilung der Öffentlichkeit vorgestellt, zudem ist er in voller Länge im Internet abrufbar. Mittlerweile wurde der Karlsruher Beschluß auch in der renommierten Neuen Juristischen Wochenschrift (Heft 14, Ausgabe vom 31. März 2011) unverändert veröffentlicht. Eine Berichtigung und/oder Kommentierung wäre längst zwingend geboten gewesen – schon um das Ansehen des höchsten deutschen Strafgerichts zu wahren.

Aus der Unterlassung kann man zweierlei schließen: Den Richtern des BGH ist es offenbar gleichgültig, mit welcher Begründung ein „NS-Kriegsverbrecher“ verurteilt worden ist. Zum anderen läßt sich daran erkennen, welche Bedeutung die Bundesrichter der korrekten Information der Instanz beimessen, in deren Namen sie Recht sprechen, dem deutschen Volk.

Die Süddeutsche Zeitung hat in einem enthusiastischen Kommentar den Beschluß des BGH vom 25. Oktober 2010 als einen „Akt der Justizhygiene“ bezeichnet. Generell wurde in den Medien das gesamte Scheungraber-Verfahren, wie zuvor die Ermittlungsverfahren im Hinblick auf die Ermordung italienischer Kriegsgefangener auf der griechischen Insel Kefallonia und nun auch der Fall Demjanjuk (obgleich diese Vorfälle vollkommen unterschiedlicher Natur sind), wegen ihrer „symbolischen Bedeutung“ gerühmt. Offensichtlich geht es beim Scheungraber-Prozeß wie bei anderen Kriegsverbrechen um etwas anderes als um die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten. Neben dem Glanz der moralischen Einmaligkeit der Deutschen geht es wohl um ganz pragmatische Zwecke: Deutsche Kriegsverbrechen dürfen nicht hinter dem Horizont der geschichtlichen Erinnerung verschwinden, damit sie als Einflußgröße zur Gestaltung heutiger politischer Prozesse erhalten bleiben.

Unterdessen ist Anfang Mai eine Delegation des Gemeinderates von Ottobrunn, der Heimatgemeinde Scheungrabers, nach Falzano di Cortona gereist, um der italienischen Opfer der Vergeltungsaktion zu gedenken. Ihr gehörten Vertreter von Grünen, SPD, FDP und ÖDP an. Ottobrunns Bürgermeister Thomas Loderer (CSU) wollte sich dagegen nicht an der Reise beteiligen.

Nicht bekannt ist, ob bei der Gedenkfeier in Falzano auch der getöteten deutschen Soldaten gedacht wurde. Denn der Vergeltungsaktion der Wehrmacht ging schließlich ein Überfall einer italienischen Partisanengruppe voraus, die geraume Zeit im Schutz der örtlichen Bevölkerung operieren konnte. Bei dem Überfall waren der Unteroffizier Schuler und der Gefreite Lindmeier aus dem Hinterhalt heraus ermordet worden.

 

Klaus Hammel, Oberst a.D. der Bundeswehr, war im Prozeß gegen Scheungraber Sachverständiger der Verteidigung

Foto: Josef Scheungraber mit seinem Anwalt vor Gericht (2009): Fast erblindet und pflegebedürftig

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