© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Pankraz,
die Ereigniskünstler und der Kulturrat

Glücklicherweise haben es die meisten Deutschen gar nicht gemerkt: Der jüngst verflossene 21. Mai, wettermäßig ein strahlender Sonnentag im ganzen Land, war ein Alptraumtag. Der „Deutsche Kulturrat“ in Berlin hatte ihn zum diesjährigen „Aktionstag für die Kultur“ ausgerufen und dafür die geistreich sein sollende, letztlich nur dümmliche Parole ausgegeben: „Die Kultur gut stärken“. Das mediale Echo unterbot alle Befürchtungen. Viele Zeitungen titelten gespielt-verdutzt „Wozu Kultur?“ Und ein großes regionales Blatt fragte in fundamentalistischer Manier: „Brauchen wir überhaupt Kultur?“

Man tat allerorten so, als sei die Kultur kein Lebenselixier, kein Lebensalltag, sondern eine Art Zutat, die man sich leisten könne oder auch nicht, auf jeden Fall sich aber leisten sollte, schon wegen der vielen hohen Gehälter, die im Zuge der „Kulturverwaltung“ gezahlt werden müssen. Alles sei im Grunde eine Sache des Geldes. Kultur sei längst eine Sache gehobener Unterhaltung, und solche Unterhaltung kostet eben Geld, so wurde einem am 21. Mai von offizieller Seite mit äußerster Penetranz nahegebracht. Wer kein Geld für die Kultur lockermachen wolle, der kriege auch keine Kultur, und dann könne er sich nicht mehr auf gediegene Weise unterhalten.

Daß der Mensch von Haus aus, ob mit oder ohne Geld, ein „Kulturtier“ ist, trat am „Aktionstag“ nirgendwo in den Blick. Dabei ist dies doch das Wichtigste, von dem alle Diskussion über Kultur ausgehen muß! „Der Mensch ist das kulturschaffende Lebewesen“, lehrte schon Kant; für ihn waren die Wörter „Mensch“ und „Kultur“ faktisch identisch. Landwirtschaft, Handwerk, Industrie, Kunst und Wissenschaft, Religion und Moral – all das ist Kultur, all das muß der Mensch erlernen und üben, um sich vom Tier abzuheben und einen privilegierten Platz in der Welt des Lebendigen zu erringen.

In den neuzeitlichen Geisteskämpfen ist eine Zeitlang zwischen Kultur und „Zivilisation“ unterschieden worden. Technik, Naturwissenschaft und strikt rationelles, exklusiv auf äußeren Gewinn abgestelltes Zweckdenken waren demnach „bloße Zivilisation“, während einzig die „feineren“, auch vom Gefühl angeleiteten und handwerklich sehr komplexen, schwer zu erlernenden (Er- )Lebenspraktiken, also Musikmachen, Dichten, bildende Kunst, den Ehrentitel der Kultur zugesprochen bekamen. Inzwischen ist die Philosophie vernünftigerweise gründlich von dieser Unterscheidung abgekommen.

Als Gegenbewegung dazu entstand eine Art „erweiterter Kulturbegriff“, der sich einerseits weiterhin von der „bloßen Zivilisation“ abhob, andererseits aber eine Menge von bis dato gar nicht als kulturhaltig erkannter Gesten und Behauptungen zu „genuinen Kunstwerken“ und „festen Bestandteilen moderner Kultur“ ernannte. Irgendwelche Alltagsgegenstände, etwa Rucksäcke oder Pissoirbecken, wurden ihrer „zivilen“ Funktion entkleidet und zu Kunstwerken „erklärt“. Oder jemand stellte sich auf die Straße und schrie: „Ich bin ein Kunstwerk!“

Bloßes Wollen trat an die Stelle von Können, „aus der Kunst wurde Wulst“ (Max Liebermann). Die traditionellen Kunstformen wurden gleichsam ihrer handwerklichen Würde beraubt, schnurrten zusammen zu Momenten eines alle Genres umfassenden Events, an dem jedermann „schöpferisch“ mitwirken konnte. Außerordentlich gestärkt wurde die Rolle der „Kulturfunktionäre“, der Event-Organisatoren, Kuratoren, Kulturräte, auch der medialen Großkritiker. Es entstand der moderne „Kulturbetrieb“, und die Organisatoren und Kulturräte waren seine Herren.

Nicht mehr auf die herkömmlichen Geldgeber, auf reiche Liebhaber oder repräsentationsbegierige Staatsmänner, sind nun die Eventmacher angewiesen, denn jene wagen längst keine eigenen Entscheidungen mehr, wissen nicht, was der Zeitgeist will und was sie also wollen sollen. Um so besser weiß es die neue Klasse der Räte, Kuratoren und Organisierer. Bei der also muß man sich anstellen, die muß man anbetteln bzw. unter kräftigen medialen Druck setzen, um Geld lockerzumachen. Genau betrachtet stehen nicht mehr die Künstler im Mittelpunkt des modernen Kulturlebens, sondern die Räte und Aufseher.

Fast kann man die Zeitungen verstehen, die beim „Aktionstag“ verwundert fragten: „Brauchen wir eigentlich Kultur?“ Die Zeiten sind bekanntlich hart, Geld wird überall gebraucht im öffentlichen Raum, bei der Modernisierung von Schulen und beim Ausbessern von Straßen. Und es wird immer knapper, respektive wertloser. Man muß die Frage nur ein wenig variieren, um ihr Sinn zu verleihen: „Brauchen wir wirklich die vielen teuren Kulturräte, die im Namen des erweiterten Kulturbegriffs bestimmte Ereignis-, Aktions- und Tendenzkünstler in Gang setzen, nur um gemeinsam mit ihnen in die Medien zu kommen?“

Man riskiere einen Blick in andere Weltgegenden! Zahlreiche Künstler dort, so der zur Zeit in China inhaftierte Ai Weiwei, mögen vom Handwerklichen und vom Ideenhaben her nicht besser sein als ein beliebiges Pendant in hiesigen Breiten, aber Ai Weiwei übt doch immerhin eine eminent politische Funktion aus, macht seinem Staat zu schaffen. Die Räte auf der einen Seite und der Künstler auf der anderen – sie sind dort noch Kontrahenten, und so sollte es ja eigentlich auch sein, zumindest nach der dominierenden „kritischen“ Sichtweise. Aber bei uns ist das doch völlig anders!

Bei uns sitzen Räte und Künstler zur Zeit dauerhaft im selben Boot, planen, zappeln und kassieren gemeinsam und werden von der Öffentlichkeit gleichberechtigt als „Kulturträger“ registriert. Deshalb sind die vom Deutschen Kulturrat nun schon seit Jahren veranstalteten „Aktionstage für die Kultur“ nur noch deplaziert, ja obszön. Es sind nichts weiter als Anlässe zum Einsammeln von Geld. Man sollte derlei Veranstaltungen endlich beerdigen.

PS: Selbstverständlich sei damit nichts gegen die Förderung der Kultur durch Geld gesagt, allenfalls etwas gegen die Förderung des Geldumlaufs durch den erweiterten Kulturbegriff.

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