© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

CD: Scarlatti
Städtisch, nicht höfisch
Jens Knorr

Es sei ihm nach seinen CDs mit Bach, Couperin und Rameau folgerichtig erschienen, auch deren Zeitgenossen Domenico Scarlatti einzuspielen, äußert sich der französische Pianist Alexandre Tharaud (42) im Beiheft seiner neuesten CD mit 18 Sonaten des originellen Neapolitaners, 18 von mindestens 555.

In demselben Jahr wie Bach und Händel geboren, 1685, wird Domenico von seinem Vater ausgebildet, dem Opernkomponisten Alessandro Scarlatti. Nach Anstellungen in Neapel und Rom, folgt er, wohl 1720, seiner Schülerin, der Infantin Maria Barbara von Portugal, an den Hof von Lissabon und, nach deren Verheiratung, an den spanischen Hof. Von 1729 bis zu seinem Tode 1757 lebt und arbeitet Scarlatti in Sevilla und Madrid.

All die vermutlich für seine Schülerin komponierten und nur in Kopien uns Heutigen überlieferten einsätzigen Sonaten haben eine zweiteilige Form, doch was Scarlatti innerhalb dieser an klanglichen und spieltechnischen Experimenten vom Zaun bricht, greift weit in das 19. Jahrhundert vor und über das Instrument hinaus, für das er sie geschrieben hat, das Cembalo.

Tharaud spielt die „wilden Blumen am Zaun der Klassik“ (Barbara Zuber) auf einem modernen Yamaha-Konzertflügel. Seine höchst subjektive Auswahl ist zugleich höchst repräsentativ. Da gibt es die „Essercizi“ mit knalligen Tonrepetitionen, Arpeggien und Läufen über mehrere Oktaven oder Verläufen, die das Überkreuzen der Hände erfordern, das lyrische Ausdrucksstück, das sich unter Tharauds Händen gleichsam zu „einer richtigen Opern-arie“ auswächst, und jene Stücke, in denen Scarlatti den Flamenco und Elemente der spanischen Volksmusik an den eigenen Stil assimiliert – Tharaud assimiliert diesen wiederum an den seinen.

Der ist romantisierend und klassizistisch zugleich. Tharaud blickt aus dem 21. auf das 18. Jahrhundert zurück, ohne die Spuren der dazwischen liegenden tilgen zu wollen. Alle Freiheiten, welche die Sonaten, „Klingstücke“ also, dem Pianisten geben, nimmt dieser diszipliniert durch. Unter seinen Händen klingt das moderne Klavier, als entbinde es Erinnerungen an seinen Urahn, das Cembalo, aus dem Unterbewußten. Tharaud gibt ihm Leben, Seele, Geschichte. Sein Anschlag ist klar, dabei nicht hart, präzise, dabei nie pedantisch, sein Spiel einfühlsam distanziert, diskret überschwenglich, sein Zugang mehr städtisch denn höfisch, und städtisch in ganz eigenem Sinne.

Die Aufnahme entstand in tausend Metern Höhe, in dem 1955 eingeweihten Konzertsaal von La Chaux-de-Fonds, einem Städtchen in der französischsprachigen Schweiz. Hier hat sich Clara Haskil regelmäßig aufgehalten, hier hat sie konzertiert, eine Straße ist nach ihr benannt. Der genialen Pianistin und Scarlatti-Interpretin hat Tharaud seine Aufnahme gewidmet.

Wenn die Plattenfirma das Digipak ihres Künstlers nur nicht im Stil von Setcards hätte layouten lassen oder, wennschon – dennschon, gleich eine ganze Modekollektion durchgezogen, hätte sie den Hörer wunschlos glücklich machen können. An dem Rang von Alexandre Tharauds sehr hörenswerter Scarlatti-Interpretation ändert das eine so wenig etwas, wie das andere etwas daran ändern würde.

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