© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Politisch vermintes Gelände
Der Historiker Stefan Scheil startet in der JF eine Serie über den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941
Stefan Scheil

Der siebzigste Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjet­union, also das „Unternehmen Barbarossa“ vom 22. Juni 1941, wird in diesem Jahr Anlaß geben, die Definition „Überfall“ weiter zu bekräftigen. Alle Zweifel daran oder gar die Feststellung, das Deutsche Reich sei einem drohenden und als drohend erkannten sowjetischen Angriff zuvorgekommen, dieser „Überfall“ sei also ein bewußt geführter Erstschlag, ein sogenannter Präventivkrieg gewesen, werden schnell mit dem Verdikt des Geschichtsrevisionismus belegt.

Tatsächlich wird über diese Frage natürlich seit langem diskutiert, eigentlich bereits seit der umfangreichen und als Verteidigungsschrift abgefaßten Proklamation, mit der Deutschlands Diktator den Angriff noch am gleichen Tag in diesem Sinn begründete. Die deutschen Kriegsgegner führten diese Debatte weiter und stellten später durch den von ihnen eingerichteten Nürnberger Gerichtshof fest, es sei unmöglich, diese Begründung für den deutschen Angriff zu glauben. Statt dessen sei das Unternehmen Barbarossa ein unprovozierter Überfall auf ein unvorbereitetes Land gewesen. Um diese beiden extrem weit auseinanderliegenden Deutungen kreist seitdem die Auseinandersetzung.

Präventivkriegsthese nur ein „rechtsextremes Vorurteil“

Im Spannungsverhältnis zwischen politischen Interessen und historischer Wahrheit stehen die Einschätzungen des Unternehmens Barbarossa auch weiterhin. Es ist ungebrochen ein Politikum, wie der ganze Zweite Weltkrieg überhaupt. Wer sich als Geschichtswissenschaftler die These zu eigen macht, wonach es sich um einen Präventivkrieg gehandelt habe, der läuft Gefahr, Teil einer Politisierung zu werden, die beispielsweise auch von den bundesrepublikanischen Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung ausgeht. So handelt die Bundeszentrale für politische Bildung die Stichworte Barbarossa und Präventivkrieg unter der Rubrik „rechtsextreme Vorurteile“ ab, verbunden mit der Nennung eines einzigen Autors und der wahrheitswidrigen Behauptung, diese Deutung sei erst nach 1945 unter dem Eindruck der Niederlage zum Zweck der Rechtfertigung entstanden.

Mit der Erwähnung des vermeintlichen „Zwecks“ ist auch der Grund angesprochen, warum „Präventivkrieg“ generell als Reizwort wirkt, denn der Begriff dient immer zur Rechtfertigung einer militärischen Angriffshandlung, also zur Rechtfertigung einer der schwerwiegendsten politischen Entscheidungen überhaupt. Dies könnte zur weiterführenden Ansicht – oder Unterstellung – führen, die Berufung auf eine Präventivkriegssituation als Rechtfertigung des militärischen Angriffs würde die Rechtfertigung sämtlicher im Rahmen dieses Angriffs begangener Taten mit einschließen.

Dabei besteht zwischen der Erkenntnis über umfangreiche Kriegsverbrechen und einem präventiven Anlaß für den Krieg, in dem diese Kriegsverbrechen begangen wurden, keine einfache oder gar zwingende Verbindung. In welchem Umfang ein Krieg von Taten begleitet ist, die als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind, hängt von vielen Umständen, Erfahrungen und Dispositionen der Kriegsparteien ab. Auch kann kein Hinweis auf Verbrechen, die während des sowjetisch-nationalsozialistischen Krieges begangen wurden, eine Erklärung dafür liefern, warum und unter welchen Bedrohungsszenarien dieser Krieg im Jahr 1941 begonnen wurde und nicht früher oder später. Dennoch lassen die Auseinandersetzungen um den sowjetisch-deutschen Krieg der Jahre 1941 bis 1945 eine große Neigung erkennen, in allgemeine Rechtfertigungs- oder Verdammungsdebatten abzugleiten.

Dessen ungeachtet – oder nicht zuletzt deshalb – sollen in der kommenden JF-Serie, die auf dem aktuellen Kaplaken-Bändchen der Edition Antaios aufbaut, in komprimierter Form die zentralen Fragen beantwortet werden, die zur Einstufung des deutschen Angriffs auf die UdSSR beantwortet werden müssen. Um sinnvollerweise von einem Präventivkrieg sprechen zu können, müssen stets bestimmte, prüfbare Bedingungen gegeben sein. Diese Bedingungen lassen sich aus der langen Vorgeschichte der „Präventivkriege“ und den Debatten über den Begriff selbst konsensfähig formulieren und sich danach auf den Fall des Jahres 1941 anwenden.

Um ein Präventivschlag gewesen zu sein, müssen im Fall Barbarossa wie bei jedem anderen als solchem beanspruchten Präventivkrieg im wesentlichen vier Elemente vorgelegen haben:

1. Langfristige Angriffsplanungen des Angegriffenen, in diesem Fall der UdSSR, in diesem Fall in Richtung Deutsches Reich.

2. Kenntnis solcher langfristigen Angriffsplanungen durch den späteren Angreifer, in diesem Fall das Deutsche Reich.

3. Militärische Vorbereitungen des Angegriffenen, in diesem Fall der UdSSR, die auf einen in Kürze bevorstehenden Angriff durch ihn schließen lassen.

4. Kenntnis dieser militärischen Vorbereitungen durch den Angreifer, in diesem Fall das Deutsche Reich.

Die Präventivkriegsfrage wird dabei im folgenden als bilaterale Angelegenheit zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR abgehandelt, wobei gezeigt werden soll, inwiefern die genannten vier Bedingungen erfüllt waren.

 

Stefan Scheil: Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten. Edition Antaios, Schnellroda 2011, gebunden, 92 Seiten, 8,50 Euro

Foto: Von den Deutschen nach dem 22. Juni 1941 in Grenznähe erbeutetes Kriegsmaterial der Sowjets: Präventivkrieg ist generell ein Reizwort

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