© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Nicht vereinigt, aber frei
Südtirol: Fünfzig Jahre nach der „Feuernacht“ ist die Autonomie gefestigt. Aber der Ruf nach Loslösung von Italien verhallt nicht.
Hans Gernheim

Die Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 gilt als eines der bedeutendsten Daten in der jüngeren Geschichte Südtirols (siehe Seite 19). In jener Nacht, in der die Tiroler das katholische Herz-Jesu-Fest mit der Entzündung der traditionellen Bergfeuer feierten, wurden Dutzende von Hochspannungsmasten gesprengt mit dem Ziel, die Stromversorgung der Bozner Industriezone lahmzulegen. Die Anschlagsserie ging als „Feuernacht“ in die Geschichte ein und war entscheidend dafür, die politische Unterdrückung einer kleinen deutschen Volksgruppe in das Bewußtsein der internationalen Öffentlichkeit zu rücken. Aber wie stehen die Südtiroler heute dazu und welchen Nutzen brachte die spektakuläre Aktion?

Die Feuernacht war jahrzehntelang ein Thema, um das Geschichtswissenschaft und Politik lieber einen weiten Bogen machten. Zu nah schienen die Ereignisse, zu gefährlich eine Sympathiebekundung selbst noch nach Jahrzehnten, und in manchen Fällen mag auch das schlechte Gewissen den Männern und Frauen gegenüber mitgespielt haben, die vor 50 Jahren Leben und Gesundheit einsetzten, „nicht aus Haß gegen Menschen anderer Sprache, sondern aufgrund der Not unseres Volkes“, wie es im Flugblatt des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) zur Feuernacht hieß. Erst 1991, zum 30. Jahrestag der Anschlagsserie, wurde das Thema in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Grund dafür war das Buch „Feuernacht“ dreier Journalisten, die eine historische Bewertung frei von ideologischen Denkschablonen präsentierten. Es folgten eine Fernsehfilmserie („Verkaufte Heimat“ 1992/1993) und eine Doku-Reihe („Bombenjahre“, 2005).

Seit dieser Zeit sind die „Bombenjahre“ in das historische Bewußtsein der Südtiroler gerückt – und das mit gutem Recht. Die Mitglieder des BAS taugen nicht nur aufgrund ihrer Herkunft aus allen sozialen Schichten als Identifikationsfiguren, auch die Strategie der Freiheitskämpfer, selbst unter Aufgabe des Operationszieles Menschenleben zu schützen, läßt erstaunen. In den sechziger Jahren verfolgten auch andere Untergrundbewegungen wie die baskische ETA oder die irische IRA ihre Ziele durch bewaffnete Aktionen. Der konsequente Schutz von Menschenleben ist allerdings ein Merkmal, mit dem allein der Südtiroler Freiheitskampf jener Zeit aufwarten kann. Auch wenn die italophile Geschichtsschreibung bis heute auf die Todesopfer verweist – und dabei pflichtschuldigst die zu Tode gefolterten politischen Häftlinge aus Südtirol verschweigt –, bleibt festzuhalten, daß bei allen Anschlägen mit Todesopfern die Urheber nach heutigen Erkenntnissen bei den italienischen Geheimdiensten zu suchen sind. Die italienische „Strategie der Spannung“ der späten sechziger und siebziger Jahre wurde in Südtirol erstmals erprobt. Gewalt gegen Symbole der Unterdrückung war die Methode, die Mobilisierung der Weltöffentlichkeit das Ziel. Letzteres, so kann man konstatieren, gelang. Auch der jüngst verstorbene ehemalige Landeshauptmann Silvius Magnago, damals ein erklärter Gegner der Attentate, schrieb den „Südtirol-Aktivisten“ das Verdienst zu, die italienische Staatsmacht zum Einlenken gezwungen zu haben.

Die heutige Autonomie Südtirols entstand in direkter Folge der Feuernacht: Ohne die spektakuläre Sprengung Dutzender Strommasten hätte Österreich vor der Uno kaum Gehör gefunden und der langsame „Todesmarsch der Südtiroler“ (so der Priester und Publizist Michael Gamper im Jahr 1953) wäre bis an sein bitteres Ende gekommen. Die Strategie der italienischen Regierung, zur Peitsche der polizeistaatlichen Unterdrückung das Zuckerbrot von Verhandlungen mit Österreich und Vertretern der Südtiroler Minderheit anzubieten, führte letztendlich zur Selbstverwaltung Südtirols. Eigene Schulen, weitgehend eigene Verwaltung – diese hart erkämpften Rechte sicherten seit 1972 den Aufstieg Südtirols vom Armenhaus Mitteleuropas zu einer Region, die mit den anderen Ländern des deutschen Kulturraumes Schritt halten kann. Daß nach der Feuernacht das Maximalziel, die Rückgliederung Südtirols an Österreich, nicht erreicht wurde, ist bis heute für viele ehemalige Freiheitskämpfer Grund der Enttäuschung. Bedenkt man die Opfer, die sie dafür gebracht haben – jahrelange Gefängnisstrafen, Verfolgung der Familienangehörigen, ganz zu schweigen von den brutalen Folterungen der italienischen Polizei –, so ist dies verständlich. Die Gewährung der Landesautonomie war das Minimalziel, das zu erreichen realistisch erschien.

Was die Freiheitskämpfer der sechziger Jahre angestoßen haben, wurde auf politischer Ebene von den „Vätern der Autonomie“ (Silvius Magnago, Alfons Benedikter, Anton Zelger) weitergetragen – allerdings bleiben auch heute noch offene Wunden, die einer dringenden Behandlung bedürfen. Die faschistischen Denkmäler, steinerne Demütigungen für die deutsche Volksgruppe, stehen mit wenigen Ausnahmen noch immer. Es ist bezeichnend, daß die peinliche Posse um die Beseitigung eines Mussolini-Frieses in Bozen mittlerweile in Arbeitsgruppen und Ideenwettbewerben ihr Ende gefunden hat. Darin offenbart sich eine gewisse Ironie: Der erste Anschlag im Jahr 1961 galt einem Standbild des faschistischen Diktators Mussolini bei Waidbruck an der Brennerstraße. Das Denkmal, ursprünglich dem „Genius des Faschismus“ gewidmet, war nach 1945 unbehelligt stehengeblieben. Man stelle sich vor, was geschehen wäre, wenn der „Aluminium-Duce“ von Waidbruck immer noch auf seinem Platz stünde: Eine Phalanx von rechten italienischen und linken deutschsprachigen Historikern würde seine Entfernung unter Verweis auf das „friedliche Zusammenleben“ verhindern wollen. Und vermutlich würde die Südtiroler Landesregierung diesem Druck nachgeben und mit einer „Erklärungstafel“ – verfaßt von ebendiesen Historikern – das eigene Gewissen beruhigen, wie beim Bozner Siegesdenkmal und den faschistischen Beinhäusern geschehen.

Besonders bitter aber ist die bis heute andauernde politische Verfolgung der ehemaligen Südtirol-Aktivisten. Selbst 50 Jahre nach der Feuernacht werden Südtiroler, Österreicher und bundesdeutsche Aktivisten immer noch per Haftbefehl von Italien gesucht. Eine allgemeine Aufhebung der Urteile, die in eklatanter Mißachtung jedes rechtsstaatlichen Verfahrens zustande kamen, scheitert bis heute am Unvermögen des italienischen Staates, begangenes Unrecht anzuerkennen.

Um so erbärmlicher die Haltung der Nordtiroler Landesregierung, die sich kürzlich zwar für eine „Begnadigung“ aussprach, dabei aber einige ehemalige Aktivisten ausnahm. Diese seien „rechtsradikal“ und deshalb wolle man sich nicht für sie einsetzen. Daraus spricht eine Unversöhnlichkeit, die vor allem die Linke des deutschen Sprachraumes prägt: das Südtirol-Problem war nie auch nur einen Friedensmarsch wert. Das eigene Versagen soll kaschiert werden, indem man die Aktivisten ins rechtsradikale Eck schiebt. Die Männer und Frauen, die 1961 Leben und Gesundheit für die Zukunft ihrer Heimat aufs Spiel setzten, hätten besseres verdient.

Dabei ist das Fernziel der Feuernacht, die Loslösung Südtirols von Italien, heute – trotz Autonomie und Wohlstand – gerade in der jungen Generation wieder mehrheitsfähig. Eine jüngste Umfrage der überparteilichen „Arbeitsgruppe für Selbstbestimmung“ vom November 2010 weist eine absolute Mehrheit unter den deutschen und ladinischen Südtirolern aus, die sich eine Zukunft ohne Italien vorstellen können. Neu ist auch, daß selbst in Wirtschaftskreisen eine Abkehr vom italienischen Staat ernsthaft diskutiert wird. Bisher galten wirtschaftliches Wachstum und Stabilität als eindruckvollster Beweis für den Erfolg eines autonomen Südtirol unter italienischer Herrschaft. Grund dafür ist nicht nur das schwächelnde italienische Staatswesen. Vielmehr trifft wohl zu, was das italophile Wochenmagazin FF jüngst konstatierte: Italien hat auf allen Ebenen an Anziehungskraft verloren, die Südtiroler wollen partout keine „deutschsprachigen Italiener“ sein. Der Status als autonome italienische Provinz wird von immer mehr Südtirolern nicht mehr als einzige realistische Zukunftsvision gesehen. Nach mehr als 90 Jahren italienischer Herrschaft ist dies ein erstaunliches Zeichen eines neuen  Selbstbewußtseins.

 

Die Chronik des Südtiroler Schicksals

Im Diktat von St. Germain am 10. September 1919 wird Italien der Süden Tirols (bis zum Alpenhauptkamm) zugesprochen.  Nach der Machtübernahme der Faschisten 1922 setzt eine aggressive Italienisierung ein: Verbot deutscher Schulen und Vereine; Italienisch als Amtssprache, Änderung der Orts- und Flurnamen sowie Beseitigung deutscher Namen auf Grabsteinen; forcierte Ansiedlung von Italienern.

Am 21. Oktober 1939 schließen Hitler und Mussolini das Optionsabkommen: Die deutschen Südtiroler müssen sich entweder für Deutschland entscheiden und ihre Heimat verlassen („Optanten“) oder aber unter Preisgabe ihrer Sprache und Kultur in der Heimat bleiben („Dableiber“). Bis 1943 – nach dem Seitenwechsel Italiens im Zweiten Weltkrieg wird die Umsiedlung wieder gestoppt – verlassen knapp 75.000 Personen das Land.

Auf Druck Großbritanniens unterzeichnen am 5. September 1946 der österreichische Außenminister Karl Gruber und sein italienischer Amtskollege Alcide de Gasperi den Pariser Vertrag. Die den Südtirolern darin versprochene Autonomie und Gleichberechtigung der Deutschsprachigen wird jedoch nicht näher definiert. Italien setzt die „51-Prozent-Politik“ fort: soviel Zuwanderung nach Südtirol, daß es dort eine italienische Mehrheit gibt. Am 16. November 1957 fordern 35.000 Südtiroler bei einer Kundgebung auf Schloß Sigmundskron unter der Losung „Los von Trient“ die Trennung von der italienisch dominierten Region „Trentino-Tiroler Etschland“ (heute „Trentino-Südtirol“).

Am 31. Oktober 1960 fordern die Vereinten Nationen eine Lösung des Südtirol-Problems. 1969 wird schließlich das sogenannte „Südtirol-Paket“ beschlossen: Mit ihm sollen Befugnisse und Zuständigkeiten von der (ethnisch gemischten) Region in die Provinzen  Bozen (mehrheitlich deutsch) und Trient (mehrheitlich italienisch) verlagert werden. In der regierenden Südtiroler Volkspartei (SVP) setzen sich die Paketbefürworter um Silvius Magnago durch. Dieses Zweite Autonomiestatut tritt am 20. Januar 1972 in Kraft.

Zwanzig Jahre später erklärt es der italienische Ministerrat für erfüllt, am 19. Juni 1992 teilen Österreich und Italien der Uno die Beilegung des Streits mit.

Fotos: Tiroler Schützen mit Gewehr: Leben und Gesundheit für die Zukunft der Heimat aufs Spiel gesetzt, Protestplakat der Süd-Tiroler Freiheit am Brenner: Aktivisten werden in die rechtsradikale Ecke gedrängt, Inschrift des faschistischen Siegesdenkmals in Bozen (1928): „Hier an den Grenzen des Vaterlandes setze die Feldzeichen. Von hier aus bildeten wir die anderen durch Sprache, Gesetze und Künste.“, Rolf Steiniger: Die Südtirolfrage. Ein Bildband, Studienverlag Innsbruck-Wien-Bozen 2009, Großformat, 103 Abbildungen 19,90 Euro

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