© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Schmutzige Tricksereien
Türkei: Vor der Parlamentswahl am Sonntag läßt Erdoğan die Muskeln spielen
Günther Deschner

Am Sonntag wählen die Türken ein neues Parlament, und die große Frage ist: Schafft Erdoğans konservativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Zweidrittelmehrheit?

Alle Umfragen gehen von einem deutlichen Sieg der seit 2003 regierenden AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan aus. Obwohl es so aussieht, als seien die Wahlen „schon gelaufen“, blieb auch dieser Wahlkampf – wie die meisten vor ihm in der Türkei – nicht frei von schmutzigen Tricks: Kandidaten der Kurdenpartei BDP wurden schikaniert, Politiker der Oppositionspartei MHP mit Sexvideos zum Rücktritt gedrängt.

Die Manipulationen hatten Ende April begonnen, als der für die Organisation der Wahlen zuständige „Hohe Wahlrat“ in Ankara entschied, die Bewerbungen von zwölf parteilosen kurdischen Kandidaten nicht zuzulassen – angeblich wegen ihrer „Vorstrafen“. Unter den abgelehnten Kandidaten war auch die in den Kurdengebieten populäre Politikerin Leyla Zana, Trägerin des Menschenrechtspreises des Europaparlaments. Ihre Vorstrafe hatte sie für das „Verbrechen“ bekommen, im türkischen Parlament einen Neujahrsgruß nicht nur auf türkisch, sondern zusätzlich auch auf kurdisch gesprochen zu haben.

Die Kurden, mit 20 Millionen Menschen die größte Minderheit in der Türkei, treten wie schon bei den Wahlen 2007 nicht mit ihrer Partei BDP an, sondern lassen ihre Vertreter als Unabhängige kandidieren – weil sie mit einer Parteiliste keine Chance hätten, die Zehnprozenthürde zu überspringen, die eine Partei landesweit erreichen muß, um ins Parlament zu kommen. Statt dessen versuchen sie, in den überwiegend kurdischen Städten des Südostens ihre Einzelkandidaten durchzubringen, um später im Parlament dann doch eine Fraktion bilden zu können. Die durch den Kandidatenausschluß ausgelösten Unruhen in den Kurdengebieten und die einhellige Verurteilung dieser Manipulation in türkischen Medien waren so groß, daß die Kommission schon nach ein paar Tagen einen Rückzieher machte und die Kurdenkandidaten dann doch zur Wahl zuließ.

Doch kaum war der Ärger über diese Affäre abgeklungen, sorgte ein neuer Skandal für Aufregung, als eine mysteriöse Website kompromittierende Szenen aus dem Sexleben von Oppositionspolitikern veröffentlichte. „Sex, Politik und Videos“, so die führende Tageszeitung Hürriyet, beherrschte den ganzen Mai über die Agenda. Zehn Politiker traten in den letzten drei Wochen zurück.

 „Eine schmutzige Bombe“ – so titelte die Vatan –, die offensichtlich das Ziel habe, die Partei der Nationalen Bewegung (MHP), die kleinere der zwei noch im Parlament vertretenen Oppositionsparteien, die offen rechtsextreme Positionen vertritt und regelmäßig gegen türkische Christen und Kurden agitiert, aus dem Parlament zu kippen. Bei den letzten Wahlen erhielt sie etwas mehr als 14 Prozent. Ähnlich wie die größere Oppositionspartei, die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP), „Atatürks Partei“, tat sich die MHP in den letzten Jahren durch die Blockade vieler Initiativen der regierenden AKP hervor.

Die Sex-Enthüllungen trafen aber ausschließlich Funktionäre der MHP. Und genau aus diesem Grunde gilt als sicher, daß es sich um ein Komplott mit dem Ziel handelt, die Politik zu manipulieren, die nach den Wahlen mit der Arbeit an einer neuen Verfassung vor einer historischen Weichenstellung steht. Was die Affäre besonders pikant macht: Sie könnte die Wahl entscheiden, da die MHP derzeit nur knapp über der Zehnprozenthürde liegt und leicht an ihr scheitern kann – mit einer gravierenden Folge: Wäre die MHP nicht mehr im Parlament, würde dies der AKP nicht bloß die absolute Mehrheit sichern, die sie gemäß aller Umfragen ohnehin erwarten kann, sondern es könnte die Zahl ihrer Abgeordneten sogar über die Schwelle einer Zweidrittelmehrheit heben.

Damit könnte die AKP im Alleingang eine neue Verfassung verabschieden. Die bisherige, ein Relikt aus der Zeit der Putschgeneräle von 1980, wird heute quer durch alle Parteien als Hindernis für die weitere Demokratisierung der Türkei empfunden. Die Frage aber, wie eine neue Verfassung aussehen soll, ist zwischen den politischen Lagern umstritten. Bringt die AKP am Wahltag 330 Abgeordnete in die 550 Sitze zählende Nationalversammlung, dann hat sie das Recht, jeden ihrer Vorschläge dem Volk zu einem Referendum vorzulegen, eine Mehrheit von 367 würde ihr sogar ermöglichen, die Verfassung einfach selbst zu verabschieden.

Für Partei- und Regierungschef Erdoğan geht es bei der anstehenden Wahl deswegen um mehr als um eine weitere Legislaturperiode: Eine neue Verfassung nach seiner Vorstellung soll das politische System der Türkei von einer parlamentarischen in eine Präsidialdemokratie nach französischem Vorbild transformieren, dem Regierungschef also deutlich größere Befugnisse übertragen als bislang.

Erdoğan macht Hoffnungen, stellt den Stolz auf das Erreichte und weiteren wirtschaftlichen Erfolg in den Vordergrund seiner Wahlkampagne „Hedef 2023 (Ziel 2023)“. Bis 2023, dem 100. Geburtstag der Republik, verspricht der konservative Populist die Entwicklung der Türkei zu einer der zehn größten Volkswirtschaften, den Bau von Großprojekten wie eines Kanals parallel zum Bosporus, die komplette Modernisierung Istanbuls als Metropole, den Kurden den Bau eines neuen Flughafens für Diyarbakir und allen Bürgern ein Pro-Kopf-Einkommen von 30.000 Dollar.

Foto: Ministerpräsident Erdoğan auf Wahlkampftour in Istanbul: Auf den Spuren Atatürks die Türkei bis zum Jahr 2023 an die Weltspitze führen

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