© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Pankraz,
die Neunte und die Angst des Dirigenten

Zu einem interessanten vorpfingstlichen Abenteuer verhalf seinen Anhängern der Nichtquotensender 3sat. Die Wiener Philharmoniker unter Thielemann führten Beethovens Neunte auf, und vorher gab es ein Gepräch zwischen dem Dirigenten und Joachim Kaiser darüber, warum Beethoven ausgerechnet jenes Werk, das ihn faktisch sein ganzes musikalisches Leben lang begleitet hatte, in ein Finale einmünden ließ, wo das Wort (die Verse von Schillers Ode an die Freude) die Instrumente gleichsam verdrängte, die Sprache sich also als Medium Nummer eins erwies.

Besonders der notorische Musikenthusiast Kaiser mochte sich gar nicht damit abfinden. Und tatsächlich hat Beethoven selbst, wie seine Skizzenhefte zeigen, lange gezögert, den Chor einzusetzen. 1793 hatte sein Plan, die berühmte Ode zu vertonen, zum ersten Mal feste Kontur gewonnen, doch der Komponist war damals wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß es einen rein instrumentalen Schlußsatz geben müsse. Erst im Dezember 1823, als die Aufführung nahe bevorstand und das Orchester auf endliche Abgabe der kompletten Partitur drängte, entschied er sich für den Chor.

Die Uraufführung am 7. Mai  1824 war ein unvergleichlicher Triumph, nicht zuletzt wegen der brillanten Leistungen der Sänger (unter ihnen die hochberühmte Sopranistin Henriette Sontag). Beethoven, damals bereits völlig ertaubt, stand beim Schlußsatz mit dem Rücken zum Publikum und las die Worte der Sänger von ihrem Mund ab. Henriette Sontag umarmte ihn am Ende und drehte ihn zum Publikum, das ihn frenetisch feierte. B.s Freund und Lieblingsschüler Carl Czerny aber weiß zu berichten, daß das „den Ludwig“ völlig kaltließ und er weiter darüber brütete, wie man das Chorfinale in „reine Musik“ verwandeln könne.

Musik ist dem Wort als Medium höchster Erkenntnis grundsätzlich überlegen – diese Meinung hegten und hegen nicht nur Beethoven und mit ihm faktisch sämtliche Komponisten und Klangspezialisten, sondern auch zahlreiche Philosophen, Kulturforscher und Historiker durch die Zeiten hindurch, trotz des sogenannten „Pfingstwunders“ der Bibel, wodurch Gott Wort wurde und nichts als Wort. Der größte Mathematiker des Altertums, Pythagoras, hielt die Musik, ihre Rhythmen und Kadenzen für die Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt und brachte sie in direkten Zusammenhang mit dem Lauf der Gestirne im Kosmos.

Altertumsforscher und Ethnologen sind sich mittlerweile ziemlich einig, daß die Musik bei der Evolution der Menschheit das primäre Verständigungsmittel gewesen ist. Sie stiftete Gemeinsamkeit und stammesmäßigen Zusammenhalt, ermöglichte Anbetung der Götter und Opferhandlung, stärkte Widerstand und Kampfesmut bei der Auseinandersetzung mit feindlichen Stämmen. Die Sprache kam später, und sie beschränkte sich lange Zeit auf die simple Benennung von Alltagsphänomenen. Ihren Aufstieg zu höheren Sphären verdankte sie nicht zuletzt der Musik.

„Gehobene“ Sprache, feierliche Predigt, in Rhythmen und Wohlklängen schwelgende Poesie – sie orientieren sich immer, ob bewußt oder unbewußt, am Vorbild der Musik. Schopenhauer hat in Ansehung dessen die Musik aus dem Zusammenhang mit allen übrigen „Kunstformen“ inklusive der gehobenen Sprache energisch herausgelöst und sie als originäre Bekundung des „Willens zum Leben“ gepriesen, und zwar als einzige dieser Bekundungen, die ohne Qual, ohne Fressen und Gefressenwerden abläuft. „Die Musik ist die Quintessenz des Willens, die hier wie ein fernes Paradies an uns vorüberläuft.“

Solcher Lobpreis war zweifellos auch die Sache Beethovens, und es bleibt deshalb doppelt verwunderlich, daß er im Finale seiner Neunten die Worte der Schiller-Ode stehen ließ. „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, / Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligthum! / Deine Zauber binden wieder / Was die Mode streng geteilt; / Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Das waren sicherlich gewaltige, zu Herzen gehende Verse, aber verdienten sie nicht gerade deshalb, in Musik, in den Willen zum Leben ohne Qual, umgesetzt zu werden?

Interessant in dem Gespräch bei 3sat war nun die Position Christian Thielemanns. Während sich der Musikkritiker Kaiser voll auf die Seite Beethovens schlug, hielt sich der Dirigent  und Interpret Beethovens deutlich auf Distanz. Er wußte eben aus langjähriger Erfahrung, daß es gar keine „reine“, in sich ruhende und deshalb absolute Musik geben kann, daß sie von fehlbaren Menschen zum Klingen gebracht werden muß und deshalb in heikelster Weise von momentanem Gelingen abhängig ist, von der jeweiligen Atmosphäre, von der augenblicklichen Form von Dirigent und Orchester.

Es gibt in der Musik keinen „Urtext“, in dem Sollen und konkretes Sein zur Deckung kommen. Der alte Pythagoras sprach von Mathematik und göttlicher „Sphärenharmonie“, aber die Musik hier auf Erden muß, im Gegensatz zur Sphärenmusik, wirklich erklingen. Doch niemand weiß, ob Gott überhaupt singt, und niemand hat die Sphären je klingen hören. Niemand weiß deshalb auch, wie man die Freude, diese Tochter aus Elysium, die uns alle zu Brüdern macht, jenseits des Wortes, also rein instrumental, zum Klingen bringen kann, auch der allerfeinste Tonsetzer bzw. Interpret weiß das nicht.

Höchst bemerkenswert, was Thielemann in dem Gespräch mit Kaiser allgemein über seine Praxis als Interpret und Dirigent kundgab. Er gehe niemals, ließ er wie im Nebenbei wissen, „gänzlich in die vollen“, stets bliebe bei einem Einsatz, und sei dieser noch so stürmisch, ein Rest von Zurückhaltung. Denn nie könne man mit voller Sicherheit wissen, was wirklich gemeint sei. Und das gelte natürlich vor allem fürs Finale der Neunten, wo sich Chor und Orchester, Dirigent und Publikum im Zeichen unendlicher Freude brüderlich vereinen und ob des „gelungenen Wurfs“ der ganzen Welt einen „Kuß“ geben möchten.

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