© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/11 10. Juni 2011
Sprengsätze gegen das Banale Niemand war sicher vor seinem Furor. In der Zeitschrift Die Fackel zerätzte und zerfetzte er alles, was den Menschen einsperrte: Justiz, bürgerliche (Doppel-)Moral, Kapitalismus, Kommunismus und Psychiatrie. Selbst die Psychoanalyse bekämpfte er als Herrschaftsinstrument. Am meisten jedoch war Karl Kraus als Sprachkritiker gefürchtet. Der lebenslange Haß gegen schlechtschreibende Journalisten, von ihm verächtlich als „Journaille“ tituliert, seine Wut über deren „Geschmiere“, entsprang nicht der Arroganz eines sprachlich Hochbegabten, sondern wandte sich gegen Destruktion des Sprachniveaus durch schnell runtergehämmerte Texte. Er selbst schrieb eine Seite nach eigenen Bekunden bis zu siebenmal, bevor sie in den Druck ging! Aber nicht nur Ehrfurcht vor dem Kulturgut „Sprache“ trieb ihn, sondern auch das Wissen, was Wörter anrichten können: Wie sie Propagandawirkung entfalten, sich für Kriegshetze mißbrauchen lassen, Menschen in Begriffe und Kategorien sperren. Wenn Sprache und Begriffe eine Eisschicht bilden, in der das Flüssig-Lebendige erstarrt, dann war Kraus ein unermüdlicher Eisbrecher. Die ersehnte Authentizität hingegen fand er bei den Außenseitern, Verstoßenen, Skandalmachern und existentiellen Wracks: Bei dem Philosophen Otto Weininger, der sich 23jährig erschoß, und mit „Geschlecht und Charakter“ (1903) ein Monument existentieller Qual hinterließ. Bei dem seelisch zerrütteten Caféhaus-Dichter Peter Altenberg, bei dem Dramatiker August Strindberg, der sein Leben als Experiment-Serie gestaltete, die ihm zuletzt um die Ohren flog, im Wahn enden ließ. Bei dem Dichter Frank Wedekind, für dessen „Lulu“-Drama er sich einsetzte – zu einer Zeit, als selbst ein Georg Simmel das Aufführungsverbot befürwortete. Kraus ekelte sich vor dem damaligen Sexualstrafrecht. Die Frau galt ihm als instinktgetriebenes Raubtier à la Lulu, das endlich aus dem Ehe-Käfig befreit werden müsse. Eine Ansicht, die ihm damals das Bürgertum verübelte und heute Feministinnen und Gender-Apologeten. Auch sein Ausspruch, der Kommunismus sei zwar eine ideologische Katastrophe, seine Realisierung unbedingt zu verhindern, aber als Drohmittel gegen die Frechheit der Reichen durchaus brauchbar, setzte ihn zwischen alle Stühle. Zwar wird Karl Kraus als intellektueller Sprengmeister heute noch verehrt, aber der tiefere Sinn seiner Konfrontationen geriet in Vergessenheit: die erneute Freisetzung menschlicher Transzendenz. In seinem Essay „Harakiri und Feuilleton“ beklagte er die Verachtung der Journalisten für alles, „was über das Notwendige und über das Faßbare hinausgeht. Nichts Menschliches ist ihnen fremd, doch alles Göttliche. Mit Helden und Heiligen haben sie keine Verbindung: sprachlos vor dem Geist, ratlos vor der Tat, wissen sie dennoch Bescheid.“ Dieser Rückzug ins Banale hat leider einen Haken: Zwar seien diese Leute „gottlos“, aber „dennoch in ewiger Furcht“. Sie täuschten sich durch „ihre Frechheit über die geistige Not der Zeit hinweg“, flüchteten in die „Phrase“. Daher rührt ihre „Furcht vor der Satire, dem einzig Unbegreiflichen, das sie empfinden und zugeben“. Kraus wußte von der „Irrationalität“ des Gelächters, über den „Bezug des Witzes zum Unbewußten“ (Freud), vom „heiligen Lachen“ (Bataille). So wirkten seine scharfen Aphorismen, Glossen und Essays wie Sprengkörper in der Banalitätskultur. Wenn er aber die „letzten Dinge“ direkt ansprach, ist die Verzweiflung unüberhörbar: „Viel ist nicht zu retten, aber eine Befestigung des konservativen Willens könnte noch dieser und der folgenden Generation Luft schaffen, und würdelos wie sie gelebt hat, stirbt die Kultur nicht, wenn sie den Priester kommen läßt. Die durch Verbreitung des Wissens bewirkte Geistesschwäche verlangt die Vormundschaft, auch wenn ihre politischen Mißbraucher ihr Selbständigkeit und Haß gegen jede Führung einimpfen. (...) Die Aufklärung, die alles aufklärt, was ihr verschlossen bleibt, lehre uns den Inhalt der Finsternis lieben. Seid Christen aus Notwehr! Glaubet an die Kraft, wo sich die Schwäche analytisch rächt, an Seele, wo nicht Raum ist für Psychologie! (…) Der Säbel, der ins Leben schneidet, habe recht vor der Feder, die sich sträubt. (...) Gott, wo bist du!“ Dieses „Gott, wo bist du!“ klingt nach Nietzsches „tollem Menschen“, der „am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‘Ich suche Gott! Ich suche Gott!’“ Der Satiriker Karl Kraus als „Narr in Christo“, als Christ aus Notwehr? 1911 suchte er durch den Eintritt in die katholische Kirche einen Platz, eine Institution für die verdrängte Transzendenz. Zwölf Jahre später folgte der enttäusche Austritt. Gründe: Die Haltung der Kirche zum Ersten Weltkrieg und daß sie eine heilige Stätte, den Salzburger Dom, für den Trubel der Festspiele („Jedermann“) zur Verfügung gestellt hatte. Der Katholizismus hatte als kulturkonservatives, Transzendenz garantierendes Bollwerk versagt. Aber die Sache liegt noch tiefer: Ähnlich wie Léon Bloy war Kraus zu authentisch, zu radikal, um glaubwürdiges Mitglied gesellschaftstragender Institutionen zu sein. Vielmehr steht er für jene Radikalität, die sofort an den sozialen Rand treibt. Tucholsky schien diesen „heiligen Zorn“ zu spüren, als er 1920 einer Kraus-Lesung beiwohnte, ihn als „rauchlos helle Flamme“ pries, die sich „selber treu“ bleibe. Aus Kraus „schrecklichen, unerbittlich grausamen Schriften stieg jener Klang auf, der entsteht, wenn ein blutiges Kreuz mit der Welt zusammenstößt – aus jeder Zeile ruft: ‘Wie weit habt ihr euch von Güte und Liebe entfernt!’“ Unbestechliche Selbsttreue, blutiges Kreuz: Niemand ist dem transzendenten Karl Kraus so nahe gekommen wie Tucholsky. Ob man den jemals wiederentdecken wird? Foto: Karl Kraus (1874–1936) im Garten der Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky: „Gott, wo bist du!“ |