© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Nichts kann den ersten optischen Eindruck ersetzen. Jedenfalls lehrt die Erfahrung, daß die Wiederholung, gerade weil man auf das gefaßt ist, was man sieht, abschwächt, und noch die Entschlossenheit, wieder auf dieselbe Weise begeistert zu werden, die Lebhaftigkeit des Eindrucks schädigt.

Bildungsbericht in loser Folge X: Das Schulsystem ist verrottet, äußerlich wie innerlich, die Gebäude in Verfall, mit Graffiti beschmiert, verdreckt, verwahrlost, die Nutzer unfähig oder unwillig, die Verantwortlichen desinteressiert oder bereit, jede substantielle Änderung abzuwehren, weil die zu Imageschäden führen könnte. Die Inkompetenz der Lehrerschaft wird systematisch gefördert, teils durch die Inkompetenz der Ausbilder, teils durch die Wirklichkeitsferne der Pädagogik. Die Altgedienten hat man mittels Bildungsreform in die Resignation getrieben, die Jungen wissen wenig und halten das sogar für einen Vorteil; Schuld daran tragen auch die Schulleitungen, deren Mitglieder ihre Posten Parteibuch, persönlicher Beziehung oder Irrtum verdanken und die nur ein handlungsleitendes Prinzip kennen: Opportunismus. Im Konfliktfall ist der Lehrer allein, Liebedienerei gegenüber Eltern- oder Schülerinteresse an der Tagesordnung. Die Administration vertreibt sich derweil die Zeit mit immer neuen Vorschriften, eher sozialistischer oder neoliberaler Gesamtzielsetzung. Deren Menge ist so angewachsen, daß sie niemand mehr überblickt, geschweige denn befolgt. Bei den Eltern handelt es sich um Ahnungslose, Erziehungsversager oder Drillmeister, der Nachwuchs ist desorientiert oder auf dem besten Weg, sich zu Tode zu amüsieren, analphabetisch und latent gewalttätig. Wer über Migrationshintergrund verfügt, dem ist längst klar, daß die Eingeborenen – ganz gleich ob Lehrer oder Mitschüler – allesamt „Opfa“ sind. Nur gut, daß diese Darstellung der Dinge nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, keinesfalls auf die hiesigen Zustände übertragbar ist und auf mäßigem literarischem Niveau präsentiert wird (Stephan Serin: Föhn mich nicht zu. Aus den Niederungen deutscher Klassenzimmer, Hamburg 2010, achte Auflage).

Antwerpen hat sich ein neues Museum gebaut, das MAS – Museum am Strom, ein Stück spektakulärer Architektur in changierenden Rottönen, direkt am Hafen. Das MAS führt die Sammlungen der Stadt zusammen, darunter auch die Madonna mit Seraphen und Cheruben von Jean Fouquet. Die Verantwortlichen haben das Gebäude jetzt mit einer Ausstellung eröffnet, in der dieses und andere alte Meisterwerke mit modernen Arbeiten zusammengestellt wurden – vergeblich wie jedes Projekt dieser Art, kaum jemand, der sich für letztere interessiert.

Auf die Gefahr hin, sofort mit zahllosen wissenschaftlichen Nachweisen der medizinischen Notwendigkeit von Flüssigkeitszufuhr konfrontiert zu werden: die Allgegenwart von Menschen jedes Geschlechts, jeder Klasse, jeder Altersgruppe, die Plastikflaschen bei sich führen, um fallweise an ihnen zu saugen, hat etwas Infantiles.

In Ergänzung der „Kurzen Geschichte der konservativen Intelligenz“ fand ich in einer schönen kleinen Zeitschrift (www.buendische-vielfalt.de) aus dem Umfeld der Bündischen einen interessanten Hinweis zur Liste jener APO-Führer, die ursprünglich aus dem Lager der „Nationalen“ stammten: Neben Vesper, Krahl und Mahler muß man offenbar auch Ekkehart Krippendorff nennen, den Mann, der 1965 die Verhältnisse an der FU Berlin zum Tanzen brachte, als ihm wegen seiner ostentativ linken Gesinnung die Kündigung drohte und er die in den USA erlernten Formen des „passiven Widerstands“ praktisch umsetzen ließ. Was sich in keiner biographischen Notiz findet, findet sich in den Erinnerungen eines Veteranen mit Fahrtennamen „ketscha“ an seinen Bundesführer im „Wandervogel – Deutscher Bund“, jenen Krippendorff, der seine Jungen einschwor: „Wir wissen um unsere Pflichten, um unsere Verantwortung, daß der Bund bleibe – für das Reich.“

Man sollte einmal klären, ob auch die Fehlerinnerung in bezug auf Größenverhältnisse mit der Abschwächung des ersten Eindrucks zu tun hat. Gemeint ist damit nicht der natürliche Irrtum, der entsteht, wenn man etwas als Kind gesehen hat und dann noch einmal als Erwachsener. Gemeint ist eine Neigung, die Dimension dessen zu überschätzen, was uns imponiert. Zuletzt machte ich diese Erfahrung bei der Besichtigung des Genter Altars der Brüder van Eyck, den ich erstmals mit Anfang Zwanzig im Original gesehen hatte. Es irritierte jedenfalls bei der Wiederbegegnung, daß mir die Abmessungen geschrumpft schienen. Mag sein, daß die Notwendigkeit, das wachsende Publikum auf Distanz zum Objekt zu halten, eine Rolle spielt, die gläsernen Trennwände, die auch in Gent angebracht wurden, aber zufrieden stellt diese Erklärung nicht.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 24. Juni in der JF-Ausgabe 26/11.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen