© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/11 10. Juni 2011
Alltag im historischen Vakuum Im Osten waschen ist verkehrt, weil’s hier die Arbeitslosen mehrt!“ Die Warnung war typisch für das West-Berlin der Nachkriegszeit, an die sich erinnert fühlt, wer als Zeitzeuge die Ausstellung „Berlin unterm Notdach. Fotografien 1945–1955“ besucht. Die Schau zeigt knapp 150 Aufnahmen des jüdischen Fotografen Fritz Eschen (1900–1964), der Anfang der dreißiger Jahre zu den Pionieren des deutschen Bildjournalismus zählte. Nachdem er das Dritte Reich aufgrund einer „privilegierten Mischehe“ überlebt hatte – seine erste Frau Rose und der gemeinsame Sohn Peter wurden in Auschwitz ermordet –, dokumentierte er in der einstigen Reichshauptstadt den Alltag der Stunde Null. Hierdurch wurde Eschen, so der Publizist Ernst Elitz mit Bezug auf die aus Schutt errichteten Trümmerberge, zum „Zeugen geologischer Umwälzung“. Doch vor allem sei der Blick auf seine Bilder „wie das Blättern in einem Fotoalbum meiner eigenen Kindheit“. So berührend beispielsweise die Aufnahmen von Kindern sind, die inmitten der Ruinenlandschaft ihre Puppen und Kinderwagen hegen und so eine Idylle beschwören, so distanziert ist der Blick zuweilen, etwa auf zwei junge Frauen, die im Dezember 1945 arglos auf einer Bank sitzend die Zeitung Sie des jüdischen Verlegers Ullstein lesen – hinter ihrem Rücken an der Ziegelmauer steht in weißen Blockbuchstaben „Für Juden verboten“. Unvermutet aktuell wirkt dagegen das Bild von der Litfaßsäule im Jahr 1946: Eine Frau blickt auf das Werbeplakat der Zeitung Sie, auf dem die Propaganda von SPD, SED und LDP persifliert wird. Auf den zu den Parteien gehörenden Luftballons stehen jeweils die identischen Losungen: „Arbeit, Aufbau, Freiheit, Demokratie“, kommentiert mit dem Fazit: „Jetzt weiß man wenigstens, was man wählen soll.“ Vom eigentümlichen Reiz des historischen Vakuums künden indes zwei amerikanische Studentinnen, die auf dem Balkon der Ruine der Neuen Reichskanzlei mit dem Führergruß kokettieren. Ein Gegenbild zu dieser Leerstelle einstiger Allmachtsphantasie ist das unwirkliche Idyll mit dem Titel „Flüchtlinge auf dem Lehrter Bahnhof“ im August 1945. Wer sich bewußt macht, daß hier – anders als es den Anschein hat – nicht die Aufnahme einer Inszenierung zu sehen ist, dem kann das Bild schnell unscharf werden, weil die Emotionen unversehens in das Auge des Betrachters treten. Neben Bildern vom Schwarzmarkt oder Ernst Reuters Ansprache während der Berlin-Blockade besticht manches Stilleben Eschens, etwa das zwischen Apokalypse und Absurdität changierende Motiv des unversehrten Lessingdenkmals vor dem Hintergrund des zerstörten Reichstages. Sehenswert sind auch zahlreiche Porträts, etwa von Martin Heideg-ger, Gottfried Benn, Kurt Schumacher, Gustaf Gründgens oder – als einzige Aufnahme vor dem „Zivilisationsbruch“ – Max Liebermann 1930 in seinem Atelier am Brandenburger Tor. Freundlich auf den Betrachter blickt Melvin J. Lasky, Herausgeber des Monat und publizistischer Wortführer im Kampf gegen den Kommunismus. Zur Ironie der Geschichte gehört es, daß sein Porträt – wie überhaupt das gesamte Archiv Eschens mit rund 90.000 Aufnahmen – wegen fehlenden bundesdeutschen Interesses vom Sohn Klaus Eschen im Jahr 1973 einer Abteilung der Deutschen Staatsbibliothek in Ost-Berlin übertragen worden war, die heute zur Deutschen Fotothek in Dresden gehört. Die Foto-Ausstellung ist noch bis zum 26. Juni in der Galerie C/O Berlin, Oranienburger Straße 35/36, täglich von 11 bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 030 / 28 44 41-661 Der von Mathias Bertram und Jens Bove herausgegebene Katalog mit 176 Seiten und 154 ganzseitigen Abbildungen (Verlag Lehmstedt, Leipzig) kostet 24,90 Euro. www.co-berlin.info Foto: Zwei Frauen bei der Zeitungslektüre, Dezember 1945: Distanzierter Blick |