© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Interessen mit Berechenbarkeit verfolgen
Eine Untersuchung zu Bismarcks europäischen Strategien auf dem Weg zur Reichseinigung
Uwe Ullrich

Biographien wie Spezialstudien über Otto von Bismarck (1815–1898) füllen Bibliothekswände. Dominik Haffer breitet in fünf Hauptkapiteln seine Forschungsergebnisse über das Europabild seines Protagonisten aus. Die geschichtswissenschaftliche Untersuchung – unter Rückgriff auf benachbarte Wissenschaftsdisziplinen – entwickelt sich zwischen den Überschriften „Überlegungen zum polischen Handeln Bismarcks “ und „Das Deutsche Reich als neue Größe im europäischen Staatensystem“ thematisch. Anliegen des Verfassers ist es, die außenpolitischen Gedankengänge Bismarcks zu analysieren und gleichzeitig zu versuchen, ihre vielfältigen Ursprünge zu rekonstruieren. Er will in seiner Studie vermeiden, ihn „aus dem Blickwinkel der europäischen Integration des 20. Jahrhunderts zu betrachten, sondern den Übergang, die Zeit des Strukturwandels und der Transformation des europäischen Staatensystems, zu der Bismarck ohne Zweifel beigetragen hat, und die Sicht des letzteren auf die Veränderungen“ darzulegen.

Bismarcks Leben vollzieht sich in einem Jahrhundert des steten politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Europa. Bereits als Jugendlicher erhielt er durch Reisen und Bekanntschaften seine ersten Eindrücke über die Inhomogenität sowohl politischer Systeme als auch Sitten und Gebräuche. Die Unterschiede erkannte der junge Adlige in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, aber auch historischen und geographischen Voraussetzungen. Somit erlangte Bismarck frühzeitig Kenntnis von der „Unvollkommenheit staatlichen, weil letztlich menschlichen Handelns“. Allerdings bleiben negative Folgen auf die internationalen Beziehungen der Staatengemeinschaft aus, solange ihre jeweiligen Interessen mit Rationalität und Berechenbarkeit verfolgt würden und sie dabei gewisse Grundregeln – Solidarität, Zurückhaltung, Vertragstreue und Zusammenarbeit – sowie den gleichberechtigten sowie respektvollen Umgang miteinander, einhielten. Soweit die Theorie.

In der Praxis änderte sich Bismarcks Blickwinkel nach den Revolutionen 1848/49 und dem Krimkrieg 1853/54 bis 1856 erheblich. Als preußischer Gesandter auf dem Bundestag in Frankfurt nach 1851 mußte er erkennen, daß die Solidarität unter den europäischen Kabinetten an Gewicht verlor und „der allgemeine Verlust von Werten vom Aufstieg nationaler Tendenzen begleitet“ war. Selbst mit den Partnern in Wien konnte im Bund keine Einigung mehr auf Grundlage des konservativen Solidaritätsgedankens erzielt werden. Nur noch einmal verteidigten Preußen und Österreich vor dem deutschen Bruderkrieg 1866 gemeinsames Interessen: im Kampf gegen Dänemark, in dem England anfangs sogar bereit gewesen war, selbst „den Bruch internationalen Rechts durch das Kopenhagener Kabinett zu tolerieren und gleichzeitig den Protest der deutschen Kabinette zu ignorieren“.

Durch die starre Haltung der Österreicher sah sich Bismarck, seit 1862  preußischer Ministerpräsident, vor die Wahl gestellt, entweder den Status quo und damit das für den preußischen Großmachtstatus nachteilige Verhältnis mit den Habsburgern zu akzeptieren oder die Konfrontation zu suchen. Wien weigerte sich, Kompromisse hinsichtlich der deutschen Machtfrage – groß- oder kleindeutsche Lösung – einzugehen und dessen Diplomatie schickte sich an, die innerdeutsche Auseinandersetzung durch die Einmischung anderer europäischer Großmächte entscheiden zu lassen.

Eine militärische Auseinandersetzung war unausweichlich geworden. Mit dem Sieg bei Königgrätz Anfang Juli 1866 und der folgenden Gründung des Norddeutschen Bundes lag das Ziel der Proklamierung des Deutschen Reiches in Reichweite. Ein letzter Schritt war der Deutsch-Französische Krieg mit der Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal zu Versailles.

Streckenweise ausufernd, entrollt Dominik Haffer auf breiter Quellen- und Literaturbasis ein weitgefächertes Tableau der wesentlichen außenpolitischen Schritte, die Otto von Bismarck zwischen seiner Zeit als preußischer Gesandter beim Deutschen Bund bis zum Kanzler des Deutschen Reiches vollzieht. Dazu nutzt der Autor ebenso bekannte, aber interpretatorisch neu gelesene Archivalien und zieht zum Teil bisher unbekannte Akten heran. Die Fleißarbeit behandelt den Zeitraum 1848 bis 1871 ausführlich, stellt aber die Zeit der Kanzlerschaft nur in groben Zügen dar.

Leider bleibt die notwendige ausführliche Analyse des europäischen Mächtesystems mit den Möglichkeiten und Perspektiven im behandelten Zeitraum wie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur in vagen Andeutungen stecken. Dominik Haffer betont abschließend, daß Bismarck zwar ein Großmachtpolitiker war, daß er aber unter klar bestimmten und rationalen Aspekten handelte und sein Wirken nicht undifferenziert und losgelöst von den Entscheidungen der Politiker anderer Nationen betrachtet werden darf. Denn veränderte Verhältnisse erfordern entsprechende Anpassungen – und durch sie bemühte sich Otto von Bismarck immer um Stabilität des europäischen Staatensystems.

Dominik Haffer: Europa in den Augen Bismarcks. Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem. Schöningh Verlag, Paderborn 2010, gebunden, 723 Seiten, 68 Euro

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