© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Augenlust
Flanieren gilt als eine literarische Erlebnisform Von Josef Gottfried der Vorkriegszeit / Heute „surft“ man im Internet
Harald Harzheim

Ein Leben für die Augenlust. Seit 200 Jahren spaziert er gegen neuzeitliche Dynamisierung an, als letzter Aristokrat in einer Gesellschaft von Pragmatikern. Vom Voyeur unterscheidet ihn, daß er aus seinen Blicken kein Geheimnis macht, sich sogar als Beobachter inszeniert. Hinzu kommt eine analytische Distanz: sich bloß nicht ans Objekt der Betrachtung verlieren. So spazierte Heinrich Heine unter den Berliner Linden, sah sich nach „Süßem“  – Kuchen und schönen Mädchen – um, wich aber trotzdem nicht vom Weg ab.

Diese Begrenzung auf pure Augenlust ist zugleich ein Schutzmantel, bewahrt vor Selbstverlust, der Begehrende und Furchtsame gleichermaßen bedroht. Das gilt erst recht für Flaneure des Dunkels, wie Charles Baudelaire, der nachts die Pariser Armenviertel durchstreifte, weil ihm nur Elend wirkliche Authentizität zu vermitteln schien. Einige dieser Boulevard-Helden stellt jetzt die Anthologie „Flaneure“ vor: Einzelgänger aus Vergangenheit und Gegenwart berichten darin über visuelle Eroberungen und Motivation. Edgar Allan Poes „Mann der Menge“ beispielsweise treibt die Angst vor Einsamkeit auf den Boulevard. Daß der Flaneur ihr trotzdem nicht entkommt, dafür sorgt seine Reduktion auf Augenlust, die ihn zum Außenseiter macht.

Ist er womöglich ein ästhetisierter Prototyp moderner Bindungsunfähigkeit, wenn nicht gar Entwurzelung? Anderseits birgt purer Blickaustausch schon ein Höchstmaß an Gefahr, wie Walter Benjamin plastisch schilderte: Bei der Begegnung mit einer Passantin muß er zwar nicht das letzte Wort, aber unbedingt den ersten Blick haben. Hätte sie zuerst „die Lunte ihres Blickes an mich gelegt – ich hätte wie ein Munitionslager auffliegen müssen“. Die aristokratische Ziellosigkeit des Flaneurtums kommt nicht von ungefähr. Seine frühen Vertreter um 1800 waren tatsächlich Aristokraten, die durch zweckfreies Spazieren ihre Freiheit vom Broterwerb demonstrierten. Im demokratischen Zeitalter nimmt man solches Gebaren übel. Das bekam Franz Hessel in den 1920er Jahren zu spüren: Die gehetzten Passanten blickten verärgert auf sein zielfreies Spazieren, auf das fehlende „Wohin“. Zumal Hessel bewußt das Tempo drosselte: Dann nämlich wurde er „überspült von der Eile der anderen, es ist wie ein Bad in der Brandung“.

Nach dem Krieg wurde es still um den Flaneur. Zwischen den rauchenden Trümmern Europas mochte keiner „distanziert“ mit „ästhetischem Blick“ promenieren. Erst in letzter Zeit kommen sie vereinzelt wieder, bevölkern nicht mehr den Boulevard, sondern stöbern wie Johannes Groschupf nach „Hinterhofhelden“ (2009). Es sind die Erben Baudelaires, auf der Suche nach Authentizität im Verborgenen. Das gilt auch für die womöglich einzig große Flaneursfigur der USA, den „Whistler“. Der Held zahlreicher B-Movies der 1940er Jahre erkundete die nächtliche Großstadt pfeifend, das Publikum sah nur seinen Schatten, der auf Hausfassaden und Mauern fiel. Inzwischen lebt das Flanieren im „Surfen“ fort. Nicht auf Promenaden, sondern auf der Datenautobahn. Hier treibt das Sehen und Gesehenwerden gänzlich Blüten, hier liegen tiefste Geheimnisse offen herum.

Stefanie Proske (Hrsg.): Flaneure. Begegnungen auf dem Trottoir, Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2010, 198 Seiten, gebunden,      14,95 Euro.

Foto: Flanieren im Zeitenwandel: Über den Dubliner Platz in Paris muß man nicht mehr – wie auf dem Gemälde von Gustave Caillbotte (oben) – bei Regen spazieren; es geht heute via „Streetview“ vom Sofa aus (unten)

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