© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Retten wir Europa!
Die berechtigte Kritik an Brüssel entbindet nicht von der Suche nach Alternativen
Thorsten Hinz

Mit der Schuldenkrise hat „Brüssel“ sich vom Reiz- zum Haßwort gesteigert. Das Knirschen im Gebälk der Europäischen Union (EU) und die Abneigung, die sie mitsamt der Funktionärs-kaste auf sich zieht, erscheinen als notwendige Folgen eines Irrwegs. Die Bürger sehen sich einer Kombination aus Geheimpolitik, organisierter Verantwortungslosigkeit und diktatorischer Allüre ausgeliefert. Es besteht kein Zweifel, daß die Brüsseler Oligarchie auf diesem Weg auch den EU-Beitritt der Türkei erzwingen und die politische und kulturelle Selbstaufgabe Europas besiegeln will. Ihre lebensfremden Entschlüsse und Maßnahmen winden sich, den Schlangen des Laokoon gleich, um das politische, wirtschaftliche und Alltagsleben der Europäer. Diese stehen vor der Entscheidung, entweder den Schlangen die Köpfe abzuschneiden oder von ihnen erwürgt zu werden.

Doch was kommt nach dem scharfen Schnitt? Der Glaube, die Freiheit der europäischen Völker ließe sich im 21. Jahrhundert innerhalb der Nationalstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts exklusiv sichern und gestalten, widerspricht den Einsichten in die Geschichte – und sollte daher für eine moderne Rechte tabu sein. Mit dem Stolz des alten Europäers beschrieb der Spanier Ortega y Gasset vor achtzig Jahren das bolschewistische Rußland und das konsum- und massenkulturell orientierte Amerika als Randgebiete und Überschußprodukte des europäischen Kontinents.

Etwas Neues und Höherwertiges konnten sie ihm nicht bieten. Um so mehr beunruhigte ihn der russisch-amerikanische Machtzuwachs, der sich proportional zum Abstieg Europas vollzog. Dessen „Nationen und Natiönchen“, forderte Ortega, sollten endlich aufhören, „sich als erwachsene Leute aufzuspielen, die ihr Schicksal selbst in der Hand halten“, und statt dessen ihre Nähe zur „sittlichen und praktischen Lebensbezogenheit“ der europäischen Nachbarn erkennen. Ein erweiterter Begriff des Eigenen müsse zur politischen Konsequenz der „Vereinigten Staaten von Europa“ führen. Sonst liefen alle zusammen Gefahr, das Herrschen und das Sich-selbst-Beherrschen zu verlernen, das heißt im Innern der Dekadenz zu verfallen und nach außen wehrlos zu werden.

Keine zehn Jahre später brach unter den Europäern ein neuer Krieg aus, der sich zum Weltkrieg ausweitete. Sechs Jahre danach teilten Russen und Amerikaner den Kontinent unter sich auf. 1989 bekam er seine wohl letzte Chance, sich als Ganzheit zu konstituieren und als solche wieder einen eigenen Part in der Welt zu spielen. Beides bildet die Voraussetzung, um die nationale und kulturelle Vielfalt Europas zu bewahren. Die aktuelle Europäische Union schleppt den Geburtsfehler mit sich, ein Kind das Kalten Krieges zu sein. Ihr politischer Zweck wurde jahrzehntelang vom Ost-West-Konflikt definiert. Sie war ein ziviler Pfeiler des westlichen Staatenbündnisses, das unter amerikanischer Führung der sowjetischen Bedrohung entgegentrat. Die karolingische Europa-Lyrik stellte eine hübsche Verzierung dar. Aus der militärischen Schutzfunktion Amerikas ergab sich sein natürlicher Führungsanspruch. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde beides obsolet, so daß der nächste logische Schritt in der Emanzipation Europas von den Vereinigten Staaten bestehen müßte.

Für diese Emanzipation fehlen der EU jedoch die strukturellen, geistigen und personellen Voraussetzungen. Die Brüsseler Bürokratie degradiert Europa zur Provinz einer neu-en Weltordnung, die den imperialen Anspruch Amerikas unter veränderten Bedingungen festzuschreiben versucht. Der als Gründungsvater und intellektueller Kopf der europäischen Einigung gefeierte Jean Monnet war eng mit der amerikanischen Finanzwelt liiert.

Es mag Zufall und sachlich völlig unerheblich sein, doch wirkt trotzdem symbolisch, daß der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des Chefs der Europäischen Zentralbank, der Italiener Mario Draghi, früher bei der amerikanischen Bank Goldman Sachs angestellt war; ausgerechnet bei dem Finanzinstitut, das den Griechen beim Fälschen der Bilanzen und beim Erschleichen des Euro half und den Sprengsatz in der gemeinsamen Währung plazierte. Die Feststellung, daß die EU eine antieuropäische Politik exekutiert, spricht nicht gegen die Notwendigkeit kooperativer Strukturen. Mächtige Schwellenländer, vor allem China, treten als neue Gegenspieler hervor. Herausfordernd wirkt auch die islamische Welt, die ihren jungen Bevölkerungsüberschuß nach Europa exportiert und es sukzessive von innen umformt.

Es besteht die Gefahr, daß die außereuropäischen Mächte sich auf Kosten Europas verständigen. So gern man in den Vereinigten Staaten ausschließlich den Verbündeten sehen möchte, zeigt sich doch am Verhältnis zur Türkei, daß die Amerikaner fähig sind, Europa rein instrumentell zu betrachten. Ihr Drängen, die Türken in die EU aufzunehmen, entspringt ihrer globalen Interessenlage, wofür Europa sämtliche Risiken bis hin zur Selbstaufgabe tragen soll. In der islamischen Zuwanderung wird die abstrakte Gefahr der europäischen Dekadenz aktuell und physisch konkret. Die gemeinsamen Strukturen werden auf unabsehbare Zeit keine „Vereinigten Staaten von Europa“ ergeben. Die Krise des Euro-Raums liefert den machtvollen Beweis für die Unmöglichkeit, die nationalen Mentalitäten so eng zusammenzuspannen, daß kein Zwischenraum mehr bleibt. Nachdem die linke, ideologische, mit den Interessen Amerikas kompatible Variante von Europa gescheitert ist, muß eine rechte, pragmatische entworfen werden, die seinen geschichtlichen und kulturellen Voraussetzungen entspricht.

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