© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

„Bis zur sozialen Lynchjustiz“
Wikipedia gilt als ein Segen des Internet-Zeitalters. Doch tatsächlich hat die Online-Plattform zahllose Opfer. Der Berliner Medien-Anwalt Torsten Walter vertritt Menschen, die in Wikipedia verunglimpft werden und der Macht des Netzes kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Walter, wieso ist die Internet-Enzyklopädie Wikipedia nicht das, was sie zu sein scheint?

Walter: Eine Enzyklopädie ist in erster Linie eine Wissenssammlung. Dementsprechend überzeugt Wikipedia, wenn es um die Vermittlung weltanschaulich neutraler Sachverhalte geht. Allerdings mißbrauchen einzelne Wikipedia-Autoren mitunter Beiträge dazu, die eigene Sicht der Dinge als „Wahrheit“ zu präsentieren: Da werden einseitige, unwahre, herabsetzende oder indiskrete Behauptungen aufgestellt, um beispielsweise den wissenschaftlichen Kontrahenten, eine politische Gruppierung oder sonst jemanden – ohne effektives Recht zur Gegenrede – in ein schlechtes Licht zu rücken. Hier verlässt die Wikipedia den qualitativen Anspruch, eine objektive Wissenssammlung zu sein, und wird zum beliebigen Meinungsforum – unter dem Deckmäntelchen enzyklopädischer Objektivität. Hier liegt die große Gefahr.

Sie vertreten als Medienanwalt selbst Wikipedia-Opfer. Können Sie ein paar Beispiele geben?

Walter: Ja, aber als Rechtsanwalt natürlich nur, ohne Namen zu nennen. Ein Wissenschaftler muß über sich in Wikipedia die Falschbehauptung lesen, ihm sei seine Professur „aberkannt“ worden, ein Politiker, er hätte angeblich keine abgeschlossene Berufsausbildung, ein Unternehmer, er sei Stasi-Spitzel gewesen, eine konservative politische Gruppierung, ihr Parteiprogramm formuliere latent rassistische Positionen.

2005 hat der bekannte US-Blogger Nicholas Carr Wikipedia in einzelnen Artikeln erhebliche Fehler nachgewiesen. Erstmals entschuldigte sich daraufhin Wikipedia-Chef Jimmy Wales öffentlich: „Eine entsetzliche Peinlichkeit“, die genannten Einträge seien tatsächlich „fast unlesbarer Mist“.

Walter: Immerhin, aber es ist nicht mit Entschuldigungen getan, wenn etwa Ruf, Ehre und andere Persönlichkeitsrechte beschädigt werden. Demokratie heißt Gewaltenteilung oder „checks and balances“. Carr und andere haben öffentlich gemacht, daß bei der Wikipedia in dieser Hinsicht – und in signifikantem Gegensatz zu ihrem Selbstbild – einiges im argen liegt.

Normalerweise reagiert Wikipedia auf Kritik mit dem Hinweis, wer einen schlechten Artikel finde, der solle ihn einfach verbessern. Wenn das so ist, wo liegt dann das Problem?

Walter: Viele Wiki-Opfer, die schon einmal versucht haben, die sie betreffenden Falschaussagen in einem Artikel zu korrigieren, wissen, daß ihre Änderungen sofort von anderen Autoren wieder rückgängig gemacht werden. Das ist in einem meiner Fälle sogar so weit gegangen, daß der angeblich nur für die formale Vorsichtung des Artikels zuständige Wikipedia-Verantwortliche für sich die ideologische Lufthoheit über den Beitrag beanspruchte und die Intervention des Geschädigten eliminierte.

Selbst ein Netz-Guru wie der US-Internet-Pionier Jaron Lanier beklagt, seine Korrektur seines eigenen Wiki-Eintrags sei nach langem Hin und Her nur deswegen nicht mehr rückgängig gemacht worden, weil er sich als „eine bekannte Persönlichkeit“ öffentlichkeitswirksam beschweren konnte. Aber, so Lanier: „Wie soll sich der einzelne gegen die kollektive Behauptung im Netz wehren? Wer glaubt ihm denn?“

Walter: Nach meiner Erfahrung kann hier die anwaltliche Vertretung hilfreich sein. Denn auch wenn man auf eine anwaltliche Intervention oft keine offizielle Reaktion von der Wikipedia erhält, verschwinden dann mitunter die persönlichkeitsverletzenden Einträge aus dem Artikel.

Man kann sich also erfolgreich wehren?

Walter: Von Fall zu Fall, ja. In der Versionsgeschichte – das ist die Online-Debatte, die über strittige Artikel geführt und von Wikipedia öffentlich zugänglich dokumentiert wird – ist dann freilich nicht davon die Rede, daß ein Anwalt eingeschaltet wurde, statt dessen finden sich plötzlich teils kuriose Begründungen für die Löschung. Dennoch bleibt es bei der Eliminierung des unzulässigen Beitrags.

Also, im Einzelfall kann man durchaus Erfolg haben, wirkliche Rechtssicherheit gibt es aber nicht?

Walter: Nein, der Grundsatz, wer Recht hat, dem muß zu seinem Recht verholfen werden, stößt bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Wikipedia-Einträge schnell an seine Grenzen. Das anonyme und intransparente System Wikipedia befördert das Denunziantentum und macht das Grundrecht auf rechtliches Gehör des Betroffenen zur Farce, weil er sich oftmals nicht wirksam zur Wehr setzen kann. Während sich Wiki-Autoren herausnehmen, ihre Opfer beim Namen zu nennen und vorzuführen, verschanzen sie sich selbst hinter anonymen und pseudonymen „Firewalls“.

Hinter Wikipedia Deutschland steht die deutsche Wikimedia e.V. in Berlin. Warum ist es so schwer, sich gegen diese juristisch zur Wehr zu setzen?

Walter: Weil dieser deutsche Wikipedia-Förderverein jede inhaltliche Verantwortlichkeit für die Wiki-Artikel ablehnt und sich hierfür auf einschlägige Gerichtsentscheidungen berufen kann. Mir ist bisher kein Fall bekannt, in dem ein Gericht die Verantwortlichkeit der deutschen Wikimedia bejaht hätte – obwohl hierfür viele Gründe sprechen. Infolgedessen können Sie den deutschen Wikimedia-Verein nicht erfolgreich auf Unterlassung oder Richtigstellung unwahrer Behauptungen verklagen.

Wer ist dann verantwortlich?

Walter: Als inhaltlich Verantwortlicher auch der deutschen Wikipedia-Ausgabe wird bisher ausschließlich die Wikimedia Foundation Inc. mit Sitz in San Francisco, Kalifornien, angesehen. Auf Unterlassung unzulässiger Äußerungen in Wiki-Artikeln in Anspruch genommen, erhalten Sie von der amerikanischen Rechtsabteilung der Wikimedia Foundation allerdings Belehrungen, die ein Medienopfer nur als zusätzliche Verspottung begreifen kann. Nämlich: Bekanntlich sei die Foundation durch das US-Communications-Decency-Gesetz von jeder Haftung freigestellt. Und ob man denn schon versucht habe, festgestellte Probleme mit einem Artikel selbst zu lösen?

Man steht also wieder am Anfang.

Walter: So ist es. Zwar können Sie die Wikimedia Foundation nach den deutschen deliktsrechtlichen Regeln auch in Deutschland verklagen; das ist aber schon wegen der Zustelldauer einer Klage zeitraubend und muß bei der Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes naturgemäß völlig versagen. Auch die deutschen Staatsanwaltschaften tun sich mit Strafanzeigen wegen Beleidigung oder Verleumdung aufgrund der angeblich bestehenden Ermittlungshindernisse – also den eigentlichen Urheber der strafbaren Äußerungen ausfindig zu machen – sehr schwer.

Der Hamburger Rechtsanwalt Jan Mönikes, ein bekannter Wikipedia-Kritiker, spricht inzwischen von einer juristischen „Wiki-Immunität“.

Walter: Herrn Mönikes Einschätzung kann ich aus meiner Erfahrung nur zustimmen. Hier ist aber weniger die Rechtsprechung als vielmehr der Gesetzgeber gefragt, um ein System wie Wikipedia, das Verunglimpfungen letztlich straflos macht, gesetzlich abzustellen.

Müßte hier nicht die Medienaufsicht einschreiten?

Walter: Das sollte man eigentlich annehmen. Denn journalistisch-redaktionell gestaltete Inhalte müssen bei uns gemäß Paragraph 55 Rundfunkstaatsvertrag einen im Inland Verantwortlichen benennen. Demnach verletzt zumindest das Angebot der Wikimedia Foundation diese gesetzliche Vorschrift. Und doch hat sich jedenfalls die in einem Fall angerufene Berliner Landesmedienanstalt für unzuständig erklärt: Wikipedia sei eine Datenbank oder ein Forum – also trotz der Eigenbezeichung „Enzyklopädie“ keine Wissenssammlung – und unterliege deshalb nicht der erweiterten Impressumspflicht. In diesem Zusammenhang hat sich die Landesmedienanstalt auch noch die Selbstdarstellung der Wikipedia zueigen gemacht: „Die Inhalte der Wikipedia entstehen gemeinschaftlich, offen und ohne direkte redaktionelle Begleitung und Kontrolle.“ Das ist natürlich völlig unbefriedigend, zumal ja zumindest eine indirekte redaktionelle Betreuung zugestanden wird. Hier muß also der Gesetzgeber tätig werden und die bestehende Verantwortungslücke, die ein System wie Wikipedia ermöglicht, schließen.

Aber wird Wikipedia nicht von idealistischen Akademikern gemacht, die ihre objektiven und neutralen wissenschaftlichen Grundsätze auf das Projekt übertragen?

Walter: Nein. Idealismus und Neutralität sind keine deckungsgleichen Kategorien. Wikipedia wird von jedem gemacht, der sich – unabhängig von seiner Qualifikation – dazu berufen fühlt. Die angebliche digitale „Schwarmintelligenz“, mit der Wikipedia argumentiert, ist mit Blick auf die vielen Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die die Wikipedia zu verantworten hat, ad absurdum geführt.

Allerdings gibt es jedes Jahr unzählige Gegendarstellungen, Unterlassungsklagen und Presserats-Beschwerden bezüglich der Berichterstattung herkömmlicher Medien. Angenommen Wikipedia hätte eine professionelle Redaktion, was wäre dann besser?

Walter: Eine professionelle Wikipedia-Redaktion würde die bestehenden gravierenden Mißstände sofort auf das Normalmaß der deutschen Medienlandschaft zurückführen. Eine Redaktion haftet schließlich zivil- und strafrechtlich für die verantworteten Inhalte und muß sich infolgedessen erheblich sorgfältiger und verantwortlicher verhalten als der im Anonymen bleibende Wikipedia-Autor.

Der schon genannte Jaron Lanier spricht inzwischen gar von „Wiki-Lynchjustiz“ durch den „Wiki-Mob“, denn „bei Wikipedia bestimmen meist jene die Wahrheit, die am besessensten sind“.

Walter: Um das einzudämmen, sind definitiv der Gesetzgeber und eine Ausweitung des Medienkonzentrationsrechts auf monopolartige Kommunikationsforen gefragt. Jede Form der vorherrschenden Meinungsmacht, und erst recht Auswüchse bis hin zur sozialen Lynchjustiz, haben in unserem Rechtssystem keine verfassungsmäßige Grundlage. Das Wikipedia-Angebot wäre nach den Maßstäben des deutschen Medienaufsichts- und Medienkonzentrationsrechts rechtswidrig.

Zu Ihren Mandanten gehört der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Jan Timke und seine konservative Wählervereinigung „Bürger in Wut“, die gegen ihre Verunglimpfung bei Wikipedia, etwa als „rechtspopulistisch“, klagen will.

Walter: Mir scheint, daß ganz allgemein die politische Meinungsbildung im Bereich Neue Medien ein tieferes Verständnis vom Schutz der Persönlichkeit – der auch politischen Gruppierungen zusteht – vermissen läßt. Informationelle Selbstbestimmung wird zur Zeit noch weitgehend allein zugunsten einer falsch verstandenen Kommunikationsfreiheit interpretiert.

Was versprechen Sie und Herr Timke sich von der Klage?

Walter: Wie gesagt, kann die amerikanische Wikimedia Foundation auch in Deutschland wegen der Verbreitung unzulässiger Artikel verklagt werden. Wir wollen aber geklärt wissen, ob nicht doch auch der deutsche Wikimediaverein als Verantwortlicher herangezogen werden kann – wovon wir ausgehen. Ich bitte um Verständnis, daß ich über die Details der Klage nicht sprechen kann.

Was raten Sie also persönlich Betroffenen, ganz konkret zu tun?

Walter: Auch wenn das nun natürlich wie Eigenwerbung klingen muß: Den Anwalt einschalten! Und, auch wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sehr mühsam ist, zu seinem Recht zu kommen, rate ich jedem Betroffenen zu Geduld und Hartnäckigkeit. Außerdem sollten Bürger wie Betroffene vehement an den Gesetzgeber appellieren, die bestehenden Rechtsschutzlücken endlich zu schließen!

 

Dr. Torsten Walter ist Anwalt für Presse- und Medienrecht sowie Gründungspartner der Berliner Kanzlei BDHSW und hat bereits mehrfach Mandaten gegen Wikipedia juristisch vertreten. Walter ist außerdem Co-Autor mehrerer Sachbücher, darunter „Der große Humboldt-Ratgeber Internetrecht“ (Humboldt-Verlag, 2005). Geboren wurde der Jurist 1961 in Braunschweig.

„Wikipedia – die freie Enzyklopädie“, wie sie sich selbst nennt, startete am 15. Januar 2001. Inzwischen umfaßt das Online-Lexikon nach eigenen Angaben über 17 Millionen Artikel in 270 Sprachen, die von vierhundert Millionen Nutzern weltweit täglich abgerufen werden. Die deutschsprachige Ausgabe bietet inzwischen über eine Million Beiträge, täglich sollen 400 bis 500 neue hinzukommen. 2005 kam es zu einem Plagiatsskandal: 196 Wiki-Artikel wurden offenbar aus DDR-Lexika kopiert, inzwischen aber wieder gelöscht. www.medien-anwalt.de

Foto: Moderner Pranger: „Das anoynme und intransparente System Wikipedia befördert das Denunziantentum“

 

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