© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

„Das Thema wurde völlig ignoriert“
Brandenburg: Eine Studie der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte des SED-Regimes entzweit die Parteien in Potsdam
Lion Edler

Noch bevor das Gutachten der brandenburgischen Enquete-Kommission für die Aufarbeitung des SED-Regimes veröffentlicht wurde, tobte zwischen den Parteien bereits ein Streit über das Werk. Die 129seitige Untersuchung beleuchtet die Personalpolitik Brandenburgs unmittelbar nach der Wende und erregte Aufsehen mit Aussagen über den damaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) und den Linkspartei-Politiker Heinz Vietze, der nun Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist. Autoren der Studie sind die ehemalige Leiterin der Potsdamer Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde Gisela Rüdiger sowie der Jurist Hanns-Christian Catenhusen.

Insgesamt stellt das Dossier dem Land bezüglich seiner Personalpolitik nach 1990 ein desolates Zeugnis aus. Auch die „politisch herausgehobenen Bereiche“ Staatskanzlei und Landtag seien nur „sehr lückenhaft“ auf ehemalige Stasi-Mitarbeit hin überprüft worden, heißt es in der Studie, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegt. So seien von etwa 100 Beschäftigten des Landtags nur gut die Hälfte überprüft worden, bei der Staatskanzlei waren es 92 von knapp 200 Beschäftigten. Auch bei der Polizei wurden nach der Studie in Brandenburg nur 21 Prozent der belasteten Beamten aus dem Dienst entfernt, in Berlin waren es hingegen 75 Prozent, im Durchschnitt der Bundesländer 46 Prozent. Bezüglich des Umgangs des Landtags mit Abgeordneten, „die zur DDR-Macht- bzw. Funktionselite gehörten“, könne nur festgestellt werden, daß dieses Thema vom Landtag „komplett ignoriert“ worden sei.

Der Landtag von Brandenburg hatte nach der Wende Kriterien für die Bewertung von Stasi-Fällen im Hinblick auf Konsequenzen erarbeitet. Auf deren Basis mußten Vertrauenspersonen Einzelgespräche mit Verdächtigten führen, um deren Position zu ermitteln und ein Gesamtbild zu erhalten. Ein Landtagsbeschluß sah vor, daß die Vertrauensperson bei erwiesener Stasi-Tätigkeit dem Verdächtigten nahelegen sollte, das Mandat beziehungsweise Regierungsamt niederzulegen. Hierzu beklagt die Studie, daß es „in der Regel unzutreffenderweise oder zumindest verfrüht zur Annahme von entlastenden Grenzfällen“ gekommen sei. „Belastungs- oder zumindest Zweifelsfälle“ tauchten im Fall des Abgeordneten Heinz Vietze „bewußt“ und „überraschend“ gar nicht erst im Abschlußbericht auf, auch die Person Manfred Stolpe „wegen noch lückenhafter Erschließung der Stasi-Akten“ nicht. Hingegen meint die Studie, daß Vietze, Stolpe und ein weiteres Dutzend Abgeordnete ihre Ämter hätten zurückgeben müssen.

Die Chefin der Linksfraktion, Kerstin Kaiser, warf den Gutachtern in bezug auf Vietze daher „politisch motivierte Abrechnung“ vor und betonte seine „Verdienste für das neue Land Brandenburg“. Vor zwei Wochen hatte sich Kaiser bei einer Ein-Jahres-Bilanz noch lobend über die Arbeit der Enquete-Kommission geäußert. Auch SPD-Fraktionschef Ralf Holzschuher reagierte mit harscher Kritik und empörte sich darüber, daß Stolpe und Vietze in der Studie „in einem Atemzug“ genannt würden. „Da sind Welten zwischen“, erklärte er und sprach von „politischer Stimmungsmache“ der CDU. Schließlich sei Vietze in der DDR an der Erstellung von Internierungslisten „beteiligt“ gewesen. Allerdings scheint Holzschuher sich nur durch die Presse über das Gutachten informiert zu haben, denn in der Betrachtung von
14 Einzelfällen wird durchaus stark zwischen den Personen differenziert.

Zudem gehen die Autoren beileibe nicht nur mit Stolpe und der SPD kritisch ins Gericht, wie Holzschuher es suggeriert. So schreiben sie in bezug auf Stasi-Vorwürfe gegen die Abgeordneten Alfred Karl Pracht (FDP) und Klaus Häßler (CDU), die Fraktionen von FDP beziehungsweise Union hätten in diesen Fällen ihren „ernsthaften Willen zur Aufklärung besonders vermissen lassen“. Holzschuher warf der CDU dennoch im ZDF-Morgenmagazin vor, zu versuchen, „ein Thema zu besetzen, was nicht im Interesse des Landes Brandenburg ist“.

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