© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Perestroika im Kanzleramt
Porträt: Warum Angela Merkel auch das „Mädchen“ von Michail Gorbatschow sein könnte / Schläge gegen die Fundamente konservativer Grundwerte
Hinrich Rohbohm

Berlin, im Juli 2004. Im Foyer des Adenauer-Hauses feiert Angela Merkel ihren 50. Geburtstag. Als Festredner hat sich die Pfarrerstochter den Hirnforscher Wolf Singer gewünscht, Beiratsmitglied der religionsfeindlichen Giordano-Bruno-Stiftung. Singer spricht davon, daß es keine übergeordnete Intelligenz geben könne. Davon, daß der Mensch nichts für das könne, was passiert, daß alles nur von Neuronen abhänge. Die Pfarrerstochter lächelt, klatscht begeistert Beifall.

Die Festrede des Hirnforschers ist ihr nächster Schlag gegen die Fundamente christlich-konservativer Grundwerte in der CDU. Konnte man der Union während der Kohl-Ära den Vorwurf machen, sie beuge sich gesellschaftlichem Veränderungsdruck, so trägt sie nun gar selbst dazu bei, das Wertesystem in Deutschland nach links zu verschieben. Merkel merkt’s, lächelt und klatscht. CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer dagegen ist eingenickt. Und mit ihm die christdemokratische Funktionärsebene, die sich bis zum heutigen Tag in einem Dornröschenschlaf zu befinden scheint.

Merkels Vortragswunsch könnte der Stich mit der Spindel gewesen sein, der die CDU ins Dauerkoma beförderte. Auf ihrem Parteitag in Hannover 2007 relativiert die Partei mit dem „C“ im Namen die Unantastbarkeit menschlichen Lebens, beschließt die Verschiebung des Stichtags bei der embryonalen Stammzellforschung.

Zwei Jahre später watscht die Kanzlerin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem kasachischen Präsidenten und ehemaligen KPdSU-Funktionär Nasarbajew den Papst Benedikt XVI. wegen dessen Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Pius-Bruderschaft ab, weil sich unter ihnen der Holocaust-Leugner Richard Williamson befindet. Wie sich später herausstellt, hatten Merkels Berater schon vor der Konferenz Journalisten zu einer entsprechenden Fragestellung angeregt. Unter Merkels Regie beginnt die Union, Kinderkrippen und Einheitsschulen zu bejubeln, forciert die Einwanderung von Ausländern, fordert den Atomausstieg, führt Frauenquoten ein, wirbt für Klimaschutz, relativiert Abtreibungen, beginnt, die Feministin Alice Schwarzer zu loben und Konservative in der eigenen Partei auszugrenzen.

Als Merkel im April 2000 CDU-Vorsitzende wird, hat die Partei 600.000 Mitglieder. Heute sind es über 100.000 weniger. Nachdem Merkel 2005 zur Kanzlerkandidatin gekürt wird und damit Edmund Stoiber als Galionsfigur der Union ablöst, haben die Christdemokraten bis zum heutigen Tag bei jeder Wahl Stimmenverluste zu verzeichnen. Personelle Konsequenzen? Keine. Eine Partei zerbricht und ihre Funktionäre merken es nicht.

So gesehen ist die 56jährige tatsächlich „die späte Rache Erich Honeckers“, die die CDU in eine „sozialistische Partei neuen Typus“ verwandelt, wie die libertäre Zeitschrift eigentümlich frei 2009 schrieb.

Ohne Frage zählte die Kanzlerin, die während Honeckers Herrschaft als FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda wirkte und der Erinnerung eines Hochschullehrers der Karl-Marx-Universität Leipzig zufolge mit der Artur-Becker-Medaille in Silber ausgezeichnet worden sein soll, nicht zur DDR-Opposition.

Doch kann man sie deshalb zur Getreuen des Honecker-Staats abstempeln? Hinter der Fassade ihres SED-konformen Verhaltens schimmert aber auch ein anderes Bild durch. Äußerungen aus ihrem damaligen universitären Umfeld deuten vielmehr darauf hin, daß Merkel Honecker-Staat und Staatssicherheit durchaus kritisch gegenübergestanden haben muß. Was nicht bedeutet, daß sie keine „linientreue Marxistin“ gewesen sein mochte, wie sich ehemalige Kommilitonen erinnern.

So verkehrte sie in ihrer Studienzeit in einem intellektuellen Umfeld, das sich ein Ende des verstaubten Honecker-Stalinismus wünschte, jedoch keine Abkehr vom Sozialismus anstrebte. Diese zutiefst antikapitalistisch ausgerichteten Kreise lehnten die deutsche Einheit ab, eine Demokratie nach westlicher Vorstellung stand nicht zur Debatte. Auch der CDU Konrad Adenauers und später Helmut Kohls standen sie ablehnend gegenüber.

Das Bild der sich einen anderen Sozialismus wünschenden „linientreuen Marxistin“ verdichtet sich, wenn man sich Merkels Verhältnis zu den Dissidenten Robert Havemann, Rudolf Bahro und Reiner Kunze vor Augen führt. Alle drei Kritiker des Honecker-Staates, die keine Demokratie im westlichen Sinne, sondern einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz einforderten.

Jenem Sozialismus, von dem Merkel nie etwas gehalten haben will, wie sie ihrem Biographen Gerd Langguth vor der Bundestagswahl 2005 sagte. Eine Aussage, die angezweifelt werden darf. Die aber aus Merkels Sicht nachvollziehbar ist. Als CDU-Vorsitzende hätte eine anderslautende Antwort mehr als nur Irritationen ausgelöst.

An der Akademie der Wissenschaften war Angela Merkel eng mit Ulrich Havemann befreundet, einem Stiefsohn des Dissidenten. Im von der Staaatssicherheit streng bewachten und nur wenigen Besuchern zugänglichen Haus Robert Havemanns ging Merkel offenbar ein und aus, ein Stasi-Foto aus dem Jahr 1980 zeigt sie auf dem Anwesen des überzeugten Kommunisten, der bis 1963 mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB, der Stasi und der DDR-Armeeaufklärung konspirierte.

Reiner Kunze benennt sie als ihren Lieblingsschriftsteller, mit dem sie sich während ihres Studiums getroffen habe. Kunze war langjähriges SED-Mitglied und Absolvent des Roten Klosters, wie die Sektion für Journalistik in der DDR genannt wurde, ehe er zum DDR-Kritiker mutierte. Die Werke des angeblichen Dissidenten Rudolf Bahro habe Merkel „relativ wissenschaftlich“ studiert und sei von seinen Analysen begeistert gewesen, wenngleich sie sich gegenüber Langguth von dessen Thesen distanziert. Andererseits waren die Teilnehmer jener Gesprächskreise, in denen Merkel damals verkehrte, ausnahmslose Befürworter von Bahros „Alternative“. An einen Widerspruch Angela Merkels konnte man sich dort jedoch nicht erinnern.

Das langjährige SED-Mitglied Bahro, ein Schüler des SED-Chefideologen Kurt Hager, genießt im Westen als sogenannter DDR-Kritiker hohe mediale Aufmerksamkeit. Im Jahr 1979 wird er in die Bundesrepublik abgeschoben. Kurz darauf schließt er sich den Grünen an und fordert die Mitglieder kommunistischer Gruppen auf, sich in der Öko-Partei zu engagieren.

Merkel war auch von Michail Gorbatschow und dessen Perestroika begeistert. Eine Sympathie, die sie mit dem noch heute im gleichen Haus, ein Stockwerk unter ihr wohnenden Lothar de Maizière teilt, der im Rahmen des Petersburger Dialogs bis 2009 mit dem einstigen KPdSU-Generalsekretär in enger Verbindung stand. Dem vom langjährigen KGB-Chef Juri Andropow geförderten Gorbatschow schwebte mit seinen Überlegungen zu einem „Europäischen Haus“ ein sozialistisches Europa als Ziel vor.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine heute weitestgehend unbeachtete Warnung des einstigen KGB-Überläufers Anatoliy Golitsyn, der die Perestroika und die damit verbundenen Liberalisierungen im Ostblock sowie den Fall der Berliner Mauer bereits lange vor ihrem Eintreten voraussagte und sie als raffiniert inszeniertes sowjetisches Täuschungsmanöver bezeichnete, zu deren Bestandteil unter anderem der Aufbau einer kontrollierten Dissidentenbewegung als Vorbereitung zur Perestroika gehört habe.

Auch der frühere Berliner FAZ-Korrespondent Ralf Georg Reuth sowie der einstige Leiter und Moderator des ARD-Magazins „Report aus München“ Andreas Bönte gehen davon aus, daß die friedliche Revolution von 1989 das Resultat eines vom KGB geplanten Komplotts gegen Honecker war, in dem Modrow, Wolf, Gysi, de Maizière und Stolpe eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben sollen. Im Gegensatz zu Golitsyn sehen sie den Fall der Mauer und die deutsche Einheit als ungeplante Ereignisse und die KGB-Pläne als gescheitert an.

Die enge Beziehung Merkels zur De Maizière-Familie sowie die Rolle ihres Vaters, der mit dem Dissidenten Sacharow sympathisierte, werfen in diesem Zusammenhang ebenso Fragen auf wie Merkels Kontakte zum Dissidenten Robert Havemann. Während des Zweiten Weltkriegs gehörte Havemann einer kommunistischen Widerstandsgruppe an, die in ihrem Manifest vom 15. Juli 1943 folgende These verfaßte: „Die Zukunft von Morgen wird ein geeintes sozialistisches Europa sein.“ Der Name der damaligen Gruppe lautete „Europäische Union“.

Nein, Merkel ist nicht die Rache Erich Honeckers. Vielleicht aber die eines Michail Gorbatschow.

Foto: Gorbatschow und Merkel am Brandenburger Tor in Berlin (Februar 2011): Aus ihrer Begeisterung für den KPdSU-Generalsekretär des Zentralkomitees und dessen Perestroika hat die Kanzlerin nie einen Hehl gemacht

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