© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Mitten in der Kampfzone
Bürgerkrieg im Libanon: „Die Frau, die singt“ überzeugt mit seiner Bildgewalt
Ellen Kositza

Mag sein, daß ein im libanesischen Bürgerkrieg wurzelndes Familiendrama an sich wenig geeignet ist, selbst den vielfältig interessierten Zeitgenossen ins Kino zu locken. Zusätzlich mag der etwas unglücklich gewählte, träumerisch anmutende deutsche Titel „Die Frau, die singt“ (im Original Incendies; „Entzündete“) womöglich ein Nischenpublikum anziehen. Man lasse sich davon nicht irreführen: Wir sehen hier ein bedrückendes Meisterwerk, in Überlänge, doch ohne Längen.

Die Rahmenhandlung spielt im französischsprachigen Kanada. Den Zwillingen Simon und Jeanne Marwan, Mittdreißiger, wird das Testament ihrer Mutter eröffnet. Zusätzlich überreicht der Notar ihnen zwei verschlossene Briefumschläge und übermittelt einen Auftrag: Sie sollen, so hat es die Verstorbene verfügt, ihren Vater und ihren Bruder ausfindig machen. Allein – Jeanne und Simon wähnen den Vater frühverstorben, und von einem Bruder haben sie gar keine Kenntnis. Während Simon sich brüskiert fühlt von diesem posthumen Rätsel seiner kapriziösen Mutter, begibt sich Jeanne auf die Suche – in den Nahen Osten, die (während des ganzen Films namenlos bleibende) Heimat der Mutter.

In Rückblenden wird im folgenden das tragische Leben der jungen Christin Nawal Marwan erzählt: Wie ihre Brüder „Ehrenmord“ begehen am palästinensischen Geliebten der jungen Nawal, wie sie, gedeckt von der Großmutter, heimlich ihr Kind zur Welt bringt und es in ein Waisenhaus bringen muß. Wie sie ein Romanistikstudium aufnimmt und sich politisch engagiert. Wie dann 1975 der Bürgerkrieg ausbricht und Nawal sich, dem Flüchtlingsstrom aus dem Süden entgegen, direkt in die Kampfzone aufmacht, um ihren Sohn zu finden, ihn zu retten. Wie sie als einzige unter muslimischen Passagieren einen Anschlag auf den Reisebus überlebt, ihren Kreuzanhänger hochreckend, während Milizen mit Schüssen Frauen und Kinder niederstrecken. Ihre Gewehrläufe sind mit Marienbildchen beklebt. Nawal kann sich retten. Gezielt sucht sie ein Auskommen als Sprachlehrerin im Haus eines radikalen Parteiführers. Sie wird ihn töten.

Fünfzehn Jahre verbringt sie, ihre Wächter durch beständiges Singen zur Raserei bringend, unter Folterungen und Vergewaltigungen in einer winzigen, bettlosen Zelle. Die Zwillinge, die sie unterdessen zur Welt gebracht hat, werden schneewittchengleich von einer guten Seele gerettet, und nach der Haftentlassung verschafft man Nawal und ihren kleinen Kindern eine neue Identität im fernen Kanada. Jeanne und Simon (der nun schließlich seiner Schwester hinterherreist) ahnen nichts von ihrer frühesten Kindheit – nun fügen sie, ohne Arabischkenntnisse, in der fremden Heimat qualvoll jene Puzzleteile, die sie nie vermißt hatten, zusammen. In der Region ist „die Frau, die singt“ den Menschen immer noch ein Begriff: Man spuckt aus oder zieht den Hut.

Freilich kennt das Kinopublikum Bilder von grausigen Attentaten, Meldungen von Scharfschützen und über Flüchtlingslager; wir wissen von Kindersoldaten und ahnen die Unmenschlichkeit solcher Kriege. Dem kanadischen Filmregisseur Denis Villeneuve (43) ist es gelungen, das 2003 uraufgeführte Theaterstück des preisgekrönten libanesischen Autors Wajdi Mouawad in Bilder zu übersetzen, die den Zuschauer über Tage hinweg nicht mehr loslassen. Das geschieht mit einer Drastik, die hingegen nie ins Plakative oder auch nur auf die Höhe eines Anklagetons fällt. Manches, was wir im Hier und Jetzt für ein „schweres Schicksal“ zu halten geneigt sind, wird vor der hier gezeigten Entartung des Menschen – oder der Offenbarung des Bösen – und vor dem, was die Protagonistin (beeindruckend: Lubna Azabal) zu ertragen in der Lage ist, deutlich relativiert.

Und was ist eigentlich nach Ende des Krieges mit all den Schergen, den gesetzlosen Massenmördern geschehen? Eine Vielzahl, auch das erzählt der Film, konnte sich leicht dem Zugriff der Gerichte entziehen. Sie leben unerkannt als Asylanten – ob in Quebec oder Europa, wo der Sozialstaat ihnen ein Nachleben ohne existentielle Nöte sichert.

Mag sein, daß mancher bedauerte, daß die in der Tat brisante Migrationsgeschichte „Die Fremde“ mit Sibel Kekilli in der Titelrolle es als deutschsprachiger Streifen letztlich nicht auf die Shortlist für den Oscar 2011 – Kategorie bester ausländischer Film – schaffte. Villeneuves „Incendies“ hingegen ist dies gelungen, sehr zu Recht.

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