© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

„Heute sind wir Fremde im eigenen Land“
Irak: Die Lage der Christen hat sich dramatisch verschlechtert / Autonome Region Kurdistan als Fluchtburg
Günther Deschner

Mit zwölf Angehörigen ihrer Großfamilie leben Shirin und ihr Mann Akram mit ihren vier Kindern schon seit fast einem Jahr in Sydnaya, einer Christensiedlung nördlich von Damaskus. Nach der Ermordung eines nahen Verwandten sind sie aus ihrer Heimat im Nordirak geflohen. Den Namen der Familie wollen sie nicht geschrieben sehen. Sie haben Angst um ihre Angehörigen, die zu Hause in Mosul geblieben sind. Dort hatten sie ein Haus und ein Geschäft, hier teilen sie sich zu zwölft zwei Zimmer. Im Mai vergangenen Jahres hatte in Mosul wieder einmal eine Welle von Mordanschlägen gegen Christen begonnen, der Dutzende zum Opfer gefallen waren.

Auf Flugblättern und über Lautsprecher wurden Christen vor die Wahl gestellt, die Stadt zu verlassen oder zu sterben. Mehr als 2.000 Familien mit über 13.000 Angehörigen flohen in die umliegenden Dörfer. „Kirchen, Schulen und Klöster dort sind überfüllt, deshalb sind wir nach Syrien gekommen“, erklärt Akram. In Mosul hat er sein Haus nur abgeschlossen und den Schlüssel bei einem Nachbarn, einem Muslim, hinterlegt. „Wenn wir verkaufen, erpressen sie das Geld von uns“, sagt der Geschäftsmann resigniert. In einer Freitagspredigt habe ein Imam die Muslime sogar aufgefordert, keine Häuser von den Christen zu kaufen, weil sie „sie bald umsonst übernehmen“ könnten.

Von den mehr als eine Million chaldäischen und assyrischen Christen, die vor dem Sturz Saddam Husseins im Irak lebten, sind mittlerweile weit mehr als die Hälfte in die Nachbarländer Syrien, Jordanien, Libanon oder in den kurdischen Norden des Irak geflohen. Die chaotische Nachkriegssituation nutzten islamische Milizen, unterstützt von der Al-Qaida zugerechneten Terroristen, die Christen durch Anschläge auf Priester und Gemeindemitglieder zu vertreiben und sich ihre Besitzungen anzueignen. Grausame Morde und Folterungen sollen die noch im Land verbliebenen Christen in Angst und Schrecken versetzen, zur Flucht zwingen und das Land von „Ungläubigen“ säubern. „Vor 2003 lebten wir wie Brüder, heute sind wir Fremde in unserem Land, obwohl wir die Erben sind“, sagt Akram.

Heute leben die Christen in ständiger Angst. Anschläge, Morde, Drohungen und Entführungen gehören für sie zum Alltag. Besonders die Gegend von Mosul, ein christliches Zentrum mit vielen Klöstern und Grabstätten von Heiligen, ist von dieser modernen Christenverfolgung betroffen. In der hauptsächlich von sunnitischen Muslimen bewohnten Region unterliegen auch die Christen der islamischen Gesetzgebung. Auch christliche Frauen müssen in der Öffentlichkeit den Kopf bedecken.

Obwohl die Christen notgedrungen versuchen, sich unterzuordnen, gibt es in Mosul nicht nur Anschläge auf christliche Stätten, sondern es werden auch gezielt Wohnungen von Christen angegriffen, wie der Vertreter der chaldäischen Kirche beim Heiligen Stuhl, Monsignore Philip Nadschim, gegenüber „Kirche in Not“ berichtete.

Viele Menschen verlassen unter diesen Bedingungen das Land, obwohl sie gerne bleiben würden, wenn sie für sich und ihre Familien noch eine Zukunft sähen. Die irakischen Bischöfe appellieren daher seit langem an die westliche Welt, den Christen zu helfen, im Irak zu bleiben. Dort haben die mit Rom unierten chaldäischen Christen ihre Wurzeln. Sie waren im heutigen Irak seit dem 2. Jahrhundert und damit bereits lange vor dem Islam präsent.

Syrien und Jordanien haben ihre Tore für Flüchtlinge aus dem Irak zwar weit geöffnet. 1,2 Millionen von ihnen leben derzeit in den Nachbarstaaten – man schätzt, daß die Hälfte von ihnen Christen sind –, aber eine Zukunft haben sie auch dort nicht, denn sie dürfen nicht arbeiten. „Auch ein Recht auf Übersiedlung in Drittländer gibt es nicht. Es ist nur eine kleine Minderheit, die etwa von Schweden, den USA oder Deutschland aufgenommen worden ist“, betont Dalia al-Achi von der Uno-Flüchtlingsorganisation in Damaskus. Viele Länder haben zudem ihre Tore dichtgemacht, nicht zuletzt weil der irakische Premier Nouri al-Maliki sie darum gebeten hat.

Offiziell bemüht sich die Regierung in Bagdad, die christlichen Minderheiten zu beruhigen. Fünf Sitze (von 325) sind für sie im irakischen Parlament reserviert. Einen davon nimmt seit den letzten Wahlen der chaldäische Christ Luis Caro Bender aus dem nordirakischen Dohuk als unabhängiger Abgeordneter ein. Als Gast der Konrad-Adenauer-Stiftung berichtete er vor kurzem in Berlin über die aktuelle Situation im Irak und speziell über die Lage der auf noch 400.000 bis 500.000 geschätzten irakischen Christen. Neben den fünf christlichen Parlamentariern gibt es auch einen christlichen Minister, Sargon Lazon Sliwah, der das Umweltressort leitet. Doch die allgemeine Situation beurteilt Luis Bender nach wie vor negativ: „Die Lage hat sich teilweise für die Christen sogar dramatisch verschlechtert. An vielen Orten ist es nicht mehr möglich, den christlichen Glauben öffentlich zu leben und Kirchen zu besuchen. Viele Kirchen sind ohnehin zerstört. Als innerirakische Fluchtalternative, insbesondere für Christen aus der Region Mosul, hat sich die Autonome Region Kurdistan etabliert.“

Einen Gouverneur eigens für die stärker christlich geprägten Dörfer kann sich der Abgeordnete in der Region Kurdistan durchaus vorstellen. Heute gibt es dort bereits ein Gebiet nahe der kurdischen Millionen-Metropole Erbil, in dem Häuser und Grundstücke nur an Christen verkauft werden dürfen. Lobend äußert sich Bender über die kurdische Führung. Insbesondere sein Verhältnis zu Massud Barsani, dem Präsidenten des Freistaats Kurdistan im Irak, nennt er „sehr gut“.

Auch der Erzbischof von Erbil, Bashar Warda, ist des Lobes voll: In einem Lagebericht für „Kirche in Not“ sagte er: „Die Christen im Irak waren historisch in Bagdad und Mosul konzentriert, aber die Ereignisse seit 2003 haben die meisten gezwungen, in Nachbarländer oder die Region Kurdistan zu fliehen. Und die dortige Regionalregierung hat die Christen mit offenen Armen aufgenommen und ein Notprogramm zur Bewältigung des plötzlichen Ansturms aufgelegt.“ Die wiederholten Appelle aus Europa, mehr Flüchtlinge aus dem Irak aufzunehmen, wurden seitens hoher irakischer Stellen – auch führender Christenvertreter – kritisch kommentiert: Eine weitere Abwanderung würde nur den Islamisten in die Hände spielen, die den Irak „christenfrei ausfegen“ wollten.

Auch Iraks Staatspräsident Dschalal Talabani, ein Kurde, plädierte mehrfach dafür, statt ins Ausland zu gehen, sollten die Christen des Irak „in das sichere Gebiet der Autonomen Region Kurdistan umziehen und dort zumindest so lange bleiben, bis sich die Situation in den anderen Landesteilen stabilisiert hat“ – ein Angebot, das immer mehr Christen annehmen. „Wir gehen davon aus“, sagt auch Romeo Higari, ein christlicher Abgeordneter im Regionalparlament in Erbil, „daß noch mehr Christen in den Norden kommen. Zumindest bleiben sie dann im Irak. Es widerstrebt mir, einfach hinzunehmen, daß Christen nach Europa auswandern müssen, um noch eine Zukunft zu haben. Wir leben hier seit beinahe 2.000 Jahren. Es ist unser Land.“

Ein anderer Abgeordneter, Vorsitzender der „Assyrischen Demokratischen Bewegung“, Yunadam Kanna, findet es auch für Kurdistan vorteilhaft, wenn sich Christen aus Bagdad auf den Weg nach Norden machen: „Ärzte, Ingenieure, Dozenten“, sagt er, „Christen stellen einen großen Teil der gut ausgebildeten Elite im Irak. Wenn sie in den kurdischen Norden gehen, können sie dort in ihren Berufen arbeiten – und so bleiben sie doch auch dem Irak erhalten.“

Auch Massud Barsani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan, der selbst gemäßigter Sunnit ist, hat den christlichen Binnenflüchtlingen schon mehrfach Sicherheit in Kurdistan angeboten, und die Bagdader Zentralregierung forderte er auf, größere Anstrengungen zum Schutz der christlichen Gemeinden zu unternehmen. „Ich wiederhole auch an dieser Stelle meine Überzeugung“, so Barsani im Gespräch mit dem Autor, „von welch großer Bedeutung eine Politik der friedlichen Koexistenz und der religiösen Toleranz für den Irak ist, und appelliere an unsere Regierenden, den Schutz der Christen und religiöser Stätten sehr ernst zu nehmen. Was mich angeht: Ich werde jederzeit die Rechte der christlichen Gemeinschaft verteidigen, und ich wiederhole auch hier gerne, daß die Autonome Region Kurdistan jederzeit bereit ist, christliche Binnenflüchtlinge mit offenen Armen aufzunehmen.“

Foto: Christen demonstrieren in Mosul: Ein Leben in ständiger Angst

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