© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

Imperialismus für die Westentasche
Der „Panthersprung nach Agadir“ vor einhundert Jahren gilt als Synonym für die aggressive Außenpolitik des Kaiserreichs / Vieles daran ist Propaganda
Dag Krienen

Nachdem dort bei einem Aufruhr einige europäische Hafenarbeiter umgekommen waren, erschien ein Kreuzer vor der Hafenstadt des souveränen Sultanats von Marokko, landete Truppen und eröffnete das Feuer, als diese auf Widerstand stießen. Bald folgten weitere Truppenanlandungen, um die „Ordnung“ wiederherzustellen. Als dies nach mehrtägigen Kämpfen „gelungen“ war, waren von den gut 20.000 nichteuropäischen Bewohnern der Stadt Tausende tot und der Rest entweder geflohen oder verwundet. Dies war nicht der deutsche „Panthersprung nach Agadir“, vielmehr handelte es um eine Straf- und Befriedungsmission, die der französische Kreuzer „Galilée“ im August 1907 an der Stadt Casablanca exekutierte.

In einer Sommernacht des Jahres 1911 drang ohne Vorankündigung ein Kriegsschiff mit ausgeschalteten Lichtern und ohne Lotsenhilfe in einen tropischen Hafen ein und löste unter einem Teil der europäischen Bewohner Panik aus, während andere es lebhaft begrüßten. Auch hierbei handelte es sich nicht um das deutsche Kanonenboot „Panther“, sondern um das stärkste Kriegsschiff in der ganzen Südsee, den britischen Kreuzer „Challenger“, und den Hafen von Apia, dem Hauptort der militärisch völlig wehrlosen Kolonie Deutsch-Samoa.

Kurz zuvor, ebenfalls im Sommer 1911 ging ein altes, an der Grenze zur Verschrottung stehendes, kleines Kanonenboot – das kleinste noch hochseetaugliche Kriegsschiff – vor einem Hafen im Süden Marokkos vor Anker. Die europäischen Großmächte wurden  zeitgleich informiert, keine Drohgesten unternommen, keine Truppen angelandet und schon gar keine Beschießungen vorgenommen. Das war der berühmt-berüchtigte deutsche „Panthersprung nach Agadir“ vom 1. Juli 1911 – nach gewisser Lesart ein Zeichen für die unvergleichliche Aggressivität und Brutalität des wilhelminischen Deutschlands. Und doch war es gerade diese wenig gewaltsame Variante europäischer Kanonenbootpolitik, die eine gefährliche Phase der europäischen Mächtepolitik einleitete, die unter dem Namen „Agadir“ beziehungsweise „Zweite Marokkokrise“ bekannt wurde und Europa zeitweise an den Rand des Krieges führte.

Marokko war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der einzig verbliebene wirtschaftlich attraktive „weiße Fleck“ auf der kolonialen Landkarte Afrikas, nachdem in den 1880er Jahren der Kontinent unter den europäischen Mächten aufgeteilt und damit der Schlußpunkt der kolonialen Landnahme Europas in der Welt erreicht worden war. Auch das Deutsche Reich, das dabei in Afrika ein ansehnliches Kolonialreich von 2,5 Millionen Quadratkilometern Größe hatte erwerben können, für das danach aber trotz „Weltpolitik“ in der Welt fast nichts mehr einzuheimsen war, entwickelte unter diesen Umständen ein gewisses Interesse an Marokko.

Allerdings besaßen die Algerien beherrschenden Franzosen die beste Ausgangsposition, zumal sie sich 1904 mit London darauf geeinigt hatten, daß das Land als Preis für die Anerkennung des britischen Monopols in Ägypten rein französisches Einflußgebiet werden sollte. Paris begann sofort mit der „friedlichen Durchdringung“ Marokkos. Die deutsche Politik hingegen versuchte, unter anderem durch einen spektakulären Staatsbesuch Kaiser Wilhelms II. beim Sultan im März 1905 „ein freies, souveränes Marokko“ zumindest für die „friedliche Konkurrenz aller Mächte“ offenzuhalten. Damit löste sie die sogenannte Erste Marokkokrise aus, die politisch mit einer deutschen Niederlage endete. Immerhin bestätigte die Konferenz von Algeciras, die Anfang 1906 die Krise beendete, formal die Souveränität des Sultans und das Prinzip der wirtschaftlich offenen Tür, auch wenn sie Frankreich weitgehende politische Sonderrechte in Marokko zugestand. Durch einen bilateralen Vertrag mit Frankreich anerkannte 1909 Deutschland schließlich explizit dessen politisches Einflußmonopol gegen die Respektierung bestimmter deutscher wirtschaftlicher Interessen an.

Die formal garantierte Souveränität Marokkos drohte im Frühjahr 1911 ad absurdum geführt zu werden, als Paris zum Schutz des Sultans und der dortigen Europäer vor Aufständischen Truppen nach der Hauptstadt Fez in Marsch setzte. Faktisch lief dies auf die Errichtung eines offenen französischen Protektorats über das Land hinaus, wozu es 1912 dann auch kommen sollte. Dies zu verhindern, war 1911 aber nicht mehr das Ziel der von dem Staatssekretär des Äußeren Alfred von Kiderlen-Wächter geleiteten deutschen Politik. Vielmehr wollte er von Frankreich für den endgültigen deutschen Verzicht auf Einfluß in Nordafrika einen möglichst hohen Preis in Gestalt kolonialer Abtretungen andernorts, vornehmlich im damaligen französischen Kongo, einheimsen. Die französische Regierung gab im Juni auch eine gewisse Bereitschaft zu einer solchen Kompensation zu erkennen – und am Ende wurde die Krise, um dies vorwegzunehmen, auch auf diese Weise gelöst.

In diesem Zusammenhang sollte der „Panthersprung“ vom 1. Juli dem Reich ein „Faustpfand“ für den Fall sichern, daß Paris nach der Etablierung in Marokko seine Kompensationszusagen verleugnen oder zu minimieren versuchen sollte. Allerdings machte Kiderlen-Wächter den Fehler, dieses Ziel seiner Politik zunächst nicht klar zu benennen, weil er hoffte, so einen höheren Preis herausschlagen zu können. Das erwies sich als eine in doppelter Hinsicht fatale Strategie. Zum einen im Hinblick auf die deutsche Öffentlichkeit, in der gewisse Kreise den Traum von „Westmarokko deutsch“, andere den von umfangreichen mittelafrikanischen Erwerbungen kultivierten und entsprechend die Öffentlichkeit mobilisierten, was den Verhandlungsspielraum Berlins erheblich einschränkte.

Ein Phänomen, das sich auch auf der französischen Seite im Hinblick auf den Umfang der mittelafrikanischen Kompensationen beobachten ließ. Außenpoltisch rief die anfängliche Bedecktheit Kiderlen-Wächters den Argwohn der Briten hervor und diese damit auf den Plan. London fürchtete vor allem um seine noch frischen Bündnisbeziehungen der 1904 geschlossenen, anfangs nur losen Entente Cordiale mit Paris und wollte alles vermeiden, was Frankreich in die Arme der Deutschen treiben könnte. Großbritannien stellte sich deshalb demonstrativ hinter Paris und erhob Anspruch darauf, in solch vitalen Fragen wie Marokko nicht so behandelt werden zu dürfen, „als ob es im Rate der Nationen nicht mitzählte“.

Damit war das Marokkoproblem aber für alle Beteiligten auf die Ebene der Wahrung des Prestiges nach innen und außen gehoben worden, denn jede substantielle Konzession an die Gegenseite hätte als ängstliches Zurückweichen ausgelegt werden können, als Aufgabe des eigenen Anspruchs, im Rate der Nationen Gehör zu finden, das heißt eine vollwertige Großmacht zu sein.

Die bilateralen deutsch-französischen Verhandlungen über Marokko und den Kongo, in die sich London indirekt durch wiederholtes Bekunden seiner Bündnistreue und militärische Vorbereitungsmaßnahmen einmischte, gestalteten sich unter diesen Umständen langwierig und kompliziert. Obwohl auf beiden Seiten über die prinzipielle Art der Lösung Einigkeit bestand und weder Berlin noch Paris ernsthaft einen Krieg riskieren wollten, waren ohne wiederholte Andeutungen, notfalls auch „zum Letzten“, zum „Fechten“ bereit zu sein, Fortschritte kaum mehr zu erzielen. Tatsächlich gelang der Ausgleich erst im November im Schatten des im Oktober ausgebrochenen italienisch-türkischen Krieges um Libyen, der die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit von der marokkanischen Frage abzog.

Der „Panthersprung nach Agadir“ war, wie Thomas Meyer in seiner Untersuchung zur Politik Kiderlen-Wächters gezeigt hat, kein „offensiv-aggressiver Akt imperialistischer Freibeuterei“. Für Meyer war es sogar vornehmlich eine „defensive Reaktion auf das Drängen einer sich im nationalistischen Rausch verzehrenden deutschen Öffentlichkeit“, bei der durch irgendeinen beliebigen spektakulären außenpolitischen Erfolg die Legitimität der kaiserlichen Regierung nach innen gefestigt werden sollte.

Andere Interpreten unterstreichen eher die Festigung des Ansehens des Reiches als Großmacht nach außen. Die konkreten kolonialen Ziele, die 1911 von Kiderlen-Wächter verfolgt und teilweise auch erreicht worden sind – immerhin eine Vergrößerung der Kolonie Kamerun um gut 250.000 Quadratkilometer inklusive eines Zugangs zum Kongofluß –, waren demnach nur ein opportunistisch gewähltes Mittel zum Zweck der politischen Existenzsicherung des Reiches, mehr ein Zeichen der Bedrängnis Deutschlands als seines Drängens. Am Ende erwies sich jedenfalls der „Panthersprung“ aufgrund seiner unglücklichen diplomatischen Handhabung als außenpolitischer Fehler, der die Unzufriedenheit großer Teile der deutschen Öffentlichkeit mit der „Schlappheit“ der Reichsleitung nur noch vermehrte und Deutschlands außenpolitische Stellung gegenüber der Entente schwächte.

Foto: Kanonenboot Panther, Imperialismus-Karikatur von Edward Linley Sambourne zum Kap-Kairo-Plan Cecil Rhodes 1892: Vollwertige Großmacht sein

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