© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/11 08. Juli 2011

Genius des reinen Anschauens
Bildende Kunst: Ursula Mattheuer-Neustädt feiert ihren 85. Geburtstag mit einer Doppelausstellung in Leipzig
Sebastian Hennig

Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes Wolfgang Mattheuer rief Ursula Mattheuer-Neustädt 2006 eine Stiftung ins Leben, die der Wirkung ihrer beider Kunst Dauer verleihen soll. Vergangenes Frühjahr wurden Ausstellungsräume im Erdgeschoß ihres Wohn- und Atelierhauses auf der Leipziger Hauptmannstraße feierlich eröffnet (JF 18/10). Zum 85. Geburtstag der Künstlerin sind nun sowohl dort und als auch in der Galerie Schwind ihre Arbeiten ausgestellt.

Ursula Neustädt kam 1926 im vogtländischen Plauen zur Welt, der Heimatstadt auch des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann, eines Biedermannes, den der perfide aus Übersee gelenkte Bankrott seiner Spitzenfabrik schließlich zu einem überzeugten Nationalsozialisten werden ließ. Die Brüche und Verwerfungen dieser Epoche holen 1943 das Mädchen ein: Aufgrund der „halbjüdischen“ Abkunft ihres Vaters muß sie den Schulbesuch abbrechen und unter polnischen und russischen Zwangsarbeitern für die Rüstungsindustrie arbeiten.

Nach Kriegsende hilft sie mit unzähligen anderen Frauen bei der Enttrümmerung ihrer Heimatstadt und arbeitet anschließend als Apothekenhelferin. 1946 bewirbt sie sich an der Staatlichen Hochschule für Bauwesen, die gerade von Hermann Henselmann aufgebaut wird. In der Klasse dieses bedeutenden Architekten wird sie immatrikuliert. Im Geiste des Wiederaufbaus und einer praxisbezogenen Lehre bewährt sie sich zudem als Bautischler und Zimmermann.

Im gleichen Jahr wechselt sie an die Kunstgewerbeschule Leipzig, wo sie dem Mann begegnet, mit dem sie die nächsten fast sechs Jahrzehnte ihres Lebens verbringen wird: Wolfgang Mattheuer. Eine Pinselzeichnung in Sepia von ihr zeigt den jungen Zeichner 1947 in Tätigkeit, während er ein Bein lässig über die Sessellehne hängen läßt, Merkmal einer beschwingten und ungetrübten Zeit des Aufbruchs. Auch später hat sie immer wieder ihren Mann porträtiert, bei der versunkenen Lektüre der dickleibigen Romane von Stifter und Musil oder als bedächtiger Maler vor der Staffelei an der Küste Rügens oder vor dem Band einer Landstraße, die sich im heimatlichen Vogtland einen Hügel hinanwindet.

Wichtige und prägende Lehrer während ihres Studiums waren die Käthe-Kollwitz-Schülerin Elisabeth Voigt, der Bildhauer Walter Arnold und der Illustrator Max Schwimmer. Deren beispielhafte künstlerische Aufrichtigkeit wurzelte noch in der Vorkriegskunst. Die ideologische Durchdringung vollzog sich erst allmählich. Nach dem Studienabschluß 1952 ist Ursula Mattheuer-Neustädt als freie Zeichnerin und Illustratorin tätig. Viermal erhält sie die Auszeichnung „Schönstes Buch“ für ihre Zeichnungen zur Literatur, 1972 den Kunstpreis der Stadt Leipzig.

In der DDR gab es eine quantitativ ausgerichtete Honorarordnung und eine Hierarchie der Gattungen. Als angesehenste Kunstform galt das Wandbild, wegen seiner jahrhundertelang erprobten pädagogischen Wirksamkeit. Auch das mobile Tafelbild konnte Autorität beanspruchen, während die Zeichnung und Druckgrafik zwar gepflegt wurde, aber ganz traditionell als eine der Malerei und Bildhauerei nachgeordnete, mehr private Ausdrucksform betrachtet wurde. Allenfalls problematisch-didaktische Grafikzyklen fanden stärkere Beachtung. So war es vielleicht weniger die Konkurrenz zwischen dem Künstlerpaar, in der die Frau zwangsläufig mehr im Schatten stehen mußte, sondern eher die Schicksalsbindung an das ihr gemäße und stillere Medium der Handzeichnung.

Des ungeachtet fand ihre Kunst durch die Illustrationsfolgen in Büchern eine weite Verbreitung. Der Ausstellungsteil in den Räumen der Stiftung steht unter dem Motto „Poesie und Wirklichkeit“. In einer Reihe von Dichterporträts sind neben den erwartungsgemäßen Lessing, Rilke, Heine auch so gegensätzliche Gestalten wie Johannes R. Becher und Gertrud Kolmar zu finden. Diese Blätter hat die Zeichnerin mit Versen begleitet. Die Serie „Legende von der Liebe“ und Blätter zu „Amphitryon“ tragen unverkennbar das modische Gepräge des damaligen Zeitgeistes. Von zeitlos unbeschwerter, dekorativer Anmut erweisen sich dagegen die Federzeichnungen zu Alexander Puschkin von 1960. Die reduzierte lineare Eleganz gemahnt in ehrbarer Traditionsfolge an Max Schwimmers Artistik der Feder.

Die Landschaftsblätter in der Galerie Schwind zeigen den Genius des reinen Anschauens. Der Laudator Heinz Schönemann, dem Künstlerpaar seit Jahrzehnten verbunden, formulierte es so: „Erst die Dinge sehen, bevor man sieht, was dahinter ist.“ Ihm offenbarte sich die ganze Welt in der Bleistiftzeichnung einer „Schüssel mit Bohnen“ (1963), die er damals als eine der ersten Arbeiten Mattheuer-Neustädts für ein öffentliches Museum ankaufte. Goethe empfahl jungen Poeten, immer wieder Gelegenheitsgedichte zu machen, als die beste Schule für den freien und anmutigen Umgang mit Sprache. Manche der kleineren Zeichnungen scheinen aber auch nichts weiter darzustellen als selbstgemachte Reisesouvenirs. Wer die Lebenssituation der Entstehungszeit kennt, glaubt beim Anblick jener Landschaften von Mexiko, Frankreich, der Schweiz und Italien ein historisches Zähneknirschen als Hintergrundmusik zu vernehmen. Das rührt von jenen Künstlern her, die sich über Jahrzehnte demütig, aber immer vergeblich bei den offiziellen Stellen um solche Horizonterweiterungen bewarben.

Während sich Ursula Mattheuer-Neustädt ohne Zweifel als Landschafterin zugleich gelöster und konzentrierter zeigt als ihr Mann, dem unter der Hand jeder gelegentliche Anblick zum Bauteil seiner Weltbild-Manufaktur geronnen ist, gelingt diesem wiederum die metaphorische Synthese deutlich besser. Um einige der mehr durchgearbeiteten Zeichnungen Mattheuer-Neustädts schwebt unverkennbar der Geist Caspar David Friedrichs als ein beschworener Schutzpatron. Manchmal fügen sich dann auch die figürlichen Szenerien selbstverständlich in die Landschaften ein, wie bei der großformatigen Bleistiftzeichnung „Aufbruch zur Karfreitagsprozession in Assisi“ von 1983. Hier gerät das schlicht Anschauliche zum großen und großzügigen Bild.

Die Ausstellung mit Landschaftszeichnungen Ursula Mattheuer-Neustädts ist bis zum 3. September in der Leipziger Galerie Schwind, Springerstraße 5, Di.-Fr. von 10 bis 18 Uhr, Sa. bis 14 Uhr, zu sehen. Telefon: 03 41 / 2 53 98 80  www.galerie-schwind.de

Die Ausstellung „Poesie und Wirklichkeit“ in der Ursula Mattheuer-Neustädt und Wolfgang Mattheuer Stiftung, Hauptmannstraße 1, wird bis zum 10. September gezeigt. Telefon: 03 41 / 2 30 73 95, E-Post: stiftung.umn-wm@t-online.de

Der Katalog zu beiden Ausstellungen mit 104 Seiten kostet 25 Euro, ein von Claudia Rodegast im Plöttner Verlag, Leipzig, herausgegebenes Skizzenbuch 29,90 Euro.

Fotos: Ursula Mattheuer-Neustädt:„Die Skizze steht am Beginn des Prozesses der Bildfindung. In ihr wird ein Moment, ein oft flüchtiger Eindruck festgehalten, ein plötzlicher Einfall, das Ergebnis einer Begegnung. Sie ist so auch Materialsammlung, ein Fundus. Etwas fällt mir auf, weckt mein Interesse. Ob es mehr wird, vielleicht ein Auslöser einer komplexen Bildidee, oder ob es Skizze bleibt, das steht imMoment seiner Entdeckung und Fixierung nicht fest.“; Ursula Mattheuer-Neustädt, Die Nacht vor Golgatha (Mischtechnik, 1983); Vögel im verlassenen Steinbruch (Kugelschreiber, 1974)

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