© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/11 08. Juli 2011

Unser Platz am Gelben Meer
Urlaubsparadies Tsingtau: Spurensuche aus der deutschen Kolonialzeit in China
Joachim Feyerabend

Wenn sie die europäische Küche vermissen und genug von Dim Sum, Pekingsuppe, Loempia oder Schweinefleisch Szechuan-Art haben, gehen sie ins „Monnemer Eck“,  die Gründung eines Deutschen aus Mannheim, heute jedoch von Chinesen geführt. Die Ingenieure von Siemens oder Bombardier in Berlin arrangieren sich mit den Gegebenheiten in Qingdao, dem ehemaligen Tsingtau aus dem deutschen Kaiserreich. Sie arbeiten dort an der Konstruktion von Triebwerkszügen und dem Aufbau eines Netzes für die Hochgeschwindigkeitsbahnen der Volksrepublik. Auch das Münchner Oktoberfest müssen sie nicht missen, denn Qingdao hat seine eigene „Wiesn“ und seine 7,2 Millionen Einwohner feiern mit viel Trara jeden August ihr 16tägiges Bierfestival in einem speziell dafür hergerichteten und bayrisch inspirierten Areal.

Vor hundert Jahren lebten in Tsingtau gerade mal 30.000 Menschen.  Zuerst besiedelt wurde der strategisch günstige Ort am Gelben Meer bereits vor 6.000 Jahren. Briefmarkensammler lieben die alten Postwertzeichen der deutschen Reichspost von Kiautschou, die oft ein kaiserliches Kriegsschiff zeigten und so deutsche Überlegenheit demonstrierten. Immerhin befindet sich mit der Tsingtao Brewery Group der Bier-Marktführer des Riesenlandes in dieser nordöstlichen Hafenstadt Nordchinas, deren Umfeld zu einem der beliebtesten Kur- und Urlaubsparadiese im Reich der Mitte zählt. Die Segelolympiade 2008 etablierte zudem mit dem Neubau des modernsten Marinezentrums Ostasiens ein Traumrevier für den aufstrebenden Wassersport der ehrgeizigen Nation.

Die ozeanographischen Aktivitäten der Chinesen sind ebenfalls in Tsingtau konzentriert. Gegenwärtig operiert vom Hafen aus ein sensationelles Tauchboot zur Erforschung unterseeischer Ressourcen. Es erreicht mit Besatzung Tauchtiefen von 7.000 Metern. Im meereskundlichen Museum geht der Besucher durch einen gläsernen Tunnel und hat das  Leben im Meer in natura über sich. Der kommerzielle Hafen der Stadt ist einer der wichtigsten Überseehäfen des Landes mit einem Umschlag von 100 Millionen Tonnen (zum Vergleich hatte Hamburg 2009 etwa 110 Millionen Tonnen Umschlag). Hapag-Lloyd taufte einen seiner Containerriesen im Fernostverkehr „Tsingtao Express“.

Und auch hier läßt, wie an einigen anderen Plätzen der modernen Metropole, Kaiser Wilhelm II. grüßen: Die Brauerei ist eine deutsche Gründung mit Namen „Germania“ aus dem Jahr 1903,  als die Provinz Kiautschou deutsches Schutzgebiet war. Heute ist sie die zweitgrößte Sudstätte des Landes und gehört mit ihrem Ausstoß von jährlich 5,4 Milliarden Litern neben chinesischen Aktionären dem amerikanischen Konzern Anheuser Busch – deutsche Brauer verschliefen die Chance, in die Fußstapfen ihrer Vorväter zu treten. Von ihnen zeugt lediglich die Bronzestatue eines deutschen Bierbrauers vor dem Verwaltungsgebäude. Auch in einem eigenen Biermuseum ist noch etwas von der alten Tradition zu spüren.

Der kaiserliche Admiral Tirpitz gab Tsingtau den Beinamen „deutsches Hongkong“, andere Nautiker bezeichneten es als „Neapel am Gelben Meer“. Und so stammen auch die ursprünglichen Hafenanlagen von deutschen Ingenieuren. Ihre Spuren sind noch überall zu finden. Beispielsweise findet die ehemalige, sehr kostspielig erbaute Residenz des deutschen Gouverneurs viele Bewunderer. Ebenfalls erhalten sind das alte, sehr imposante Rathaus, die neugotische Michaeliskirche, die evangelische Kirche, die in Gestalt einer Burg errichtet wurde, das Marineamt, der frühere deutsche Marineclub, das Villengebiet von Badaguan aus dem Jahr 1903 sowie in den umliegenden und wildromantischen Bergen die höhlenartigen Kasematten der deutschen Soldaten. Ganze Straßenzüge tragen den deutschen Stempel, und es kann dem Reisenden sogar passieren, daß auf einer der Straßen ein Bratwurstverkäufer auftaucht. Alle diese Stätten werden liebevoll gepflegt und von vielen Touristen – hauptsächlich Inlandschinesen – bewundert. In manchen Stadtvierteln überfällt den Besucher das Gefühl, sich in einer europäischen Metropole zu befinden. Denn auch Dänen, Russen und Amerikaner haben ihre Spuren hinterlassen, ebenso die Japaner, die sich in einem Park verewigten.

Die Nachbildung des ehemaligen deutschen Bahnhofs wurde in einen modernen Hauptbahnhof integriert. Es war immerhin möglich, diesen 9.100 Schienenkilometer entfernten Punkt deutscher Interessen am Gelben Meer von Berlin aus mit der Bahn zu erreichen. Die Reisezeit betrug damals zwölf Tage.

Als 1897 zwei katholische Missionare in der Provinz Schantung, zu der auch Kiautschou gehört, ermordet wurden, ließ der Kaiser in Berlin als Vergeltung Tsingtau von Marineinfanteristen des Seebataillons besetzen. Damit war der deutschen „Kanonenbootpolitik“, wie die imperialistische Interessenpolitik der europäischen Mächte auf anderen Kontinenten genannt wurde, ein Erfolg beschieden. Zwar besaß das Kaiserreich schon zwei kleine, von China erworbene Gebiete in Tientsin und in Hankou am Yangtsekiang, doch eigneten diese sich nicht für einen Seehafen, der dem wachsenden Handel gerecht werden konnte.

Mit Tsingtau und seiner vor Taifunen weitgehend geschützten Bucht in der Provinz Schantung änderte sich das. Als künftiger Flottenstützpunkt für das deutsche Ostasiengeschwader wurde das Schutzgebiet nicht vom Reichskolonialamt, sondern vom Reichsmarineamt verwaltet. An der Spitze der Kolonie stand der Gouverneur (stets ein Marineoffizier), der direkt dem Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Großadmiral Alfred Freiherr von Tirpitz, verantwortlich war. Mit dem Ersten Weltkrieg 1914 endete die deutsche Herrlichkeit in Tsingtau, obwohl sich die knapp 5.000 deutschen Marinesoldaten noch über ein Vierteljahr gegen eine teilweise zehnfache Übermacht halten konnten, bevor sie am 7. November 1918 kapitulierten und in japanische Gefangenschaft gingen. Nach Versailles blieb Kiautschou unter Verwaltung der Japaner, bevor diese 1922 auf Druck der USA das Gebiet an China zurückgeben mußten.

Da sich der deutsche Besucherstrom meist zu den antiken Baudenkmälern, wie der Großen Mauer und der Verbotenen Stadt Pekings wälzt, ist Tsingtau mit seinen ausgedehnten weißen Badestränden und roten Felsen sowie seinem Seeklima mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von 12,2 Grad noch ein Geheimtip. Schon in den 1920er Jahren hatten zahlreiche prominente Chinesen hier einen Wohnsitz. Gleichwohl bietet der Ort Hotels mit internationalem Standard und englischsprechendem Personal. Zur Betreuung deutscher Gäste stehen zudem deutschsprachige Absolventen der Universität Tsingtau zur Verfügung.

Die Niederschlagung des Boxeraufstands um 1900, als sich Rebellen gegen die Fremdherrschaft imperialistischer Mächte auflehnten und sich schließlich auch der chinesische Kaiser daran beteiligte, belastet die Geschichte heute nicht mehr maßgeblich. Federführend an der blutigen Niederschlagung, die Jahrzehnte zum Trauma im Reich der Mitte wurde, war das aus acht Nationen gebildete alliierte Expeditionskorps, über welches der deutsche Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee 1900 das Kommando übernahm (mit Ausnahme der französischen und US-Truppen). Obwohl Waldersee erst eintraf, als die europäischen Truppen, darunter Soldaten des Seebataillons aus Tsingtau, Peking bereits zurückerobert hatten und nur noch letzte Widerstandsnester der Boxer zu bekämpfen waren, wird heute nicht selten die rücksichtslose Bekämpfung der chinesischen Freischärler mit seinem Namen verbunden.

In diesem Zusammenhang wird dabei auch die berühmt-berüchtigte „Hunnenrede“ des deutschen Kaisers herangezogen, bei der Wilhelm als Vergeltung für die 231 Morde der Boxer an den europäischen „fremden Teufeln“ die grausamen Kriegstechniken Attilas in Erinnerung rief: „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand (…) so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ Die Zahl der chinesischen Todesopfer (einschließlich jener von den Boxern getöteten Kollaborateure aus den eigenen Reihen) bezifferte sich auf viele Tausende.

Fotos: Rudolf Hellwege, Tsingtau und die Bucht von Kiaotschou, Öl auf Leinwand 1911: Das deutsche Hongkong; Bilder aus der kaiserlichen Kolonialzeit in Tsingtau: Die heutige chinesische Millionenstadt wirbt gern mit seinen deutschen Spuren

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