© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/11 08. Juli 2011

Gefährliche Müllwolke kreist um die Erde
Weltraumtechnik: Satellitenschrott ist längst ein ernstes Problem / ISS-Besatzung mußte flüchten
Joachim Feyerabend

Vorigen Dienstag mußte die Internationale Raumstation ISS kurzfristig geräumt werden. Die sechs Raumfahrer aus Rußland, den USA und Japan saßen für eine halbe Stunde in etwa 380 Kilometern Höhe in den beiden angedockten Sojus-Kapseln fest. Umherfliegender Weltraumschrott war zu spät entdeckt worden, um mit der ISS noch ein Ausweichmanöver einleiten zu können. Doch schließlich kamen Andrei Borissenko und seine Crew noch einmal glimpflich davon: Das „Objekt unbekannter Herkunft“ (Nasa) flog in nur 250 Metern Entfernung an dem größten künstlichen Erdtrabanten vorbei.

Bereits im März 2009 hatte es einen ähnlichen Zwischenfall gegeben, als ein anderes Trümmerteil mit zigfacher Schallgeschwindigkeit auf die ISS zugeflogen war. Im Februar 2009 waren erstmals zwei Nachrichtensatelliten in 800 Kilometern Höhe über dem Norden Sibiriens zusammengestoßen: Der seit einem Jahrzehnt außer Dienst stehende, etwa eine Tonne schwere russische Satellit „Kosmos 2251“ hatte den 600 Kilogramm wiegenden, noch aktiven amerikanischen „Iridium 33“-Satelliten erfaßt. Das Ergebnis: zwei Wolken aus hunderten Trümmerteilen. Dank vorhandener Reserven war die weltweite Kommunikation über Satellitentelefone aber nur kurzfristig eingeschränkt.

Die ISS-Beinahekatastrophe überrascht nicht, denn der erdnahe Weltraum hat sich zu einem Alptraum entwickelt: angefangen von kleinen Tropfen aus Kühlflüssigkeit, über Bolzen und Werkzeuge bis hin zu Abdeckelementen und Raketenstufen – immer mehr Schrott aus der Weltraumtechnik befindet sich auf der Erdumlaufbahn.

Und immer mehr Nationen schießen Satelliten ins All oder lassen sie von den Trägerraketen der großen Weltraumspieler Rußland, USA und EU hochtransportieren. So entstand eine gigantische Schrottwolke. Und jeder neue Unfall erzeugt noch mehr Trümmerteile. Der Nasa-Berater Donald Kessler warnte schon vor zwei Jahrzehnten vor einem Schneeballeffekt, der die Existenz der Raumfahrt gefährdet. Das Kesslersyndrom ist die größte Gefahr für Raumfahrtexperimente und Stationen im erdnahen Raum. Weit über 1,5 Millionen gefährliche Objekte umkreisen den Blauen Planeten und es werden immer mehr. Nach japanischen Berechnungen sind es sogar zehn Millionen Schrotteile.

Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, wann es zu einer tödlichen Katastrophe kommt. Daß millionenschwere Forschungsprojekte zu Bruch gehen oder plötzlich wichtige militärische oder zivile Satellitensysteme ausfallen, wird unvermeidlich sein. Schon heute müssen viele der tausend aktiven Satelliten öfters Ausweichmanöver fliegen.

Rußland macht nun Ernst mit der Entsorgung des Mülls im Orbit. Die Raketengesellschaft „Energia“ kündigte an, eine spezielle Gondel mit nuklearem Antrieb zur Entsorgung der Raumtrümmer (Space Debris) zu bauen. Das Projekt wird, so Wiktor Sinjawski von Energia, etwa 1,9 Milliarden Dollar kosten. Innerhalb von zehn Jahren sollen mindestens 600 funktionsunfähige Satelliten eingesammelt und anschließend in den Ozeanen versenkt werden. Auch ein Abfangjäger sei geplant, der gefährliche Geschosse aus dem All zerstören kann.

Japans Weltraumagentur Jaxa gab Anfang dieses Jahres zusammen mit der Firma Nitto Seimo Pläne bekannt, mit einer Art Fischernetz Kleinteile aufzufangen. Zum einen werden „Verkehrsregeln“ gefordert, zum anderen bastelt beispielsweise Australien an der Möglichkeit, mit Laserkanonen eine Säuberung einzuleiten. Forscher vom US-Naval Research Laboratory (NRL) wollen mit einer tonnenschweren Megawolke aus winzigen Wolframpartikeln den rasenden Schrott außer Gefecht setzen. Das Metall ist schwerer als Blei, es soll sich an die kleineren Objekte heften und so deren Gewicht erhöhen. Dann verliert das Trümmerteil an Höhe, es dringt schließlich in die Erdatmosphäre ein, wo es wegen seiner hohen Geschwindigkeit verglüht. Andere Experten warnen hingegen, die Wolframwolke könnte selbst zu einer Gefahr für Satelliten werden.

Rund 100.000 der bislang erfaßten Objekte sind kleiner als ein Zentimeter, 600.000 größer als ein Zentimeter, 8.500 messen mehr als zehn Zentimeter. Hinzu kommen 3.000 ausgediente Raketenstufen und 450 aktive Nutzlasten sowie 4.000 Fragmentationstrümmer. Jahr für Jahr regnet es etwa 400 Tonnen Weltraumschrott auf die Erde, das meiste davon zum Glück in die Ozeane. Im Februar 2010 knallte allerdings der Tank einer Delta-Rakete in der Mongolei auf die Erde. Die Folgen eines Einschlags in einer Großstadt wären katastrophal.

Mit Radar lassen sich nur Trümmerteile von zehn Zentimeter und mehr erfassen. Die Einschlagsgeschwindigkeit von rund 36.000 Kilometern pro Stunde ist enorm, ein Schutz fast unmöglich. Neben der Iridium-33-Zerstörung wurden bislang drei weitere solcher schweren Weltraumhavarien gezählt. Dabei wurden wiederum jeweils mehr als tausend Trümmerstücke ins All geschleudert. Im April 2010 geriet als Folge eines Solarsturmes „Galaxy 15“ von Intelsat außer Kontrolle. Der mehr als zwei Tonnen schwere Zombie-Satellit driftet seither bei Hawaii über den Pazifik und stört mit seinen Funksignalen andere Satellitenübertragungen. Auch hier besteht Handlungsbedarf.

Nach Berechnungen der europäischen Weltraumbehörde ESA dürfte auch Deutschland von einigen der umherfliegenden Objekte gefährdet sein, wenn diese im Lauf der Jahre durch die Erdanziehungskraft ihre Bahnen verlassen und in die Atmosphäre eintauchen. Doch vor allem aus militärischen Geheimhaltungsgründen ist bislang leider zu wenig unternommen worden.

 

Internationale Raumstation ISS

Während des Zweiten Weltkriegs entwickelten die Ingenieure um Wernher von Braun in Peenemünde die modernsten Raketen der Welt. Nach Kriegsende wurden er und ein Teil seiner Mitarbeiter in die USA gebracht, um dort weiterzuarbeiten. Die Sowjets mußten sich mit den in ihrer Zone verbliebenen Experten begnügen – der erste Punkt im Propagandawettlauf des Kalten Kriegs ging dennoch 1957 an Moskau: Der „Sputnik“ war der erste Satellit, der eine Erdumlaufbahn erreichte. Seit den neunziger Jahren arbeiten die einstigen Kontrahenten in der zivilen bemannten Raumfahrt aus Kostengründen eng zusammen. 1998 begann der Aufbau der Internationalen Raumstation ISS. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt der russischen Roskosmos, der US-Behörde Nasa, der europäischen ESA, der japanischen Jaxa und der kanadischen CSA. Die ISS wiegt inzwischen 455 Tonnen, sie ist fast hundert Meter lang. Sie kreist mit einer Relativgeschwindigkeit von 28.000 Kilometern pro Stunde um die Erde.

Deutschsprachige ISS-Internetseite: www.dlr.de

Foto: Raumstation ISS: Daß millionenschwere Forschungsprojekte zu Bruch gehen und wichtige Satellitensysteme ausfallen, wird unvermeidlich sein

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen