© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

„... und dann die Explosion!“
Er ist der letzte Zeuge des Attentats auf Adolf Hitler. Am 20. Juli 1944 stand Kurt Salterberg Wache, als Stau­ enbergs Bombe zündete.
Moritz Schwarz

Herr Salterberg, Ort: Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze“ in Ostpreußen, Zeit: Donnerstag, der 20. Juli 1944, 12.42 Uhr. Was haben Sie gesehen?

Salterberg: Den Lichtschein einer Explosion, dazu einen hellen, lauten Knall, berstende Fenster, durch eines wird ein uniformierter Mann geschleudert, Flammen, herumfliegende Papiere und Rauch, der überall aus der Baracke quillt.

Stauffenbergs Anschlag auf Adolf Hitler. War Ihnen gleich klar, daß das ein Attentat ist?

Salterberg: Nein. Ich habe in dem Moment gar nichts gedacht. Ich habe nur ins Telefon geschrien: „Explosion in der Lagebaracke!“ Minuten später sah ich einen Kübelwagen langsam vorbeifahren, vorne neben dem Fahrer stand aufrecht ein Offizier. Der Offizier, der mir zuvor schon aufgefallen war: Graf Stauffenberg.

Als es passierte, waren Sie der einzige Wachposten am Eingang zum innersten Sperrkreis der Wolfsschanze.

Salterberg: Ja, das war Sperrkreis 1A. Dort stand die Holzbaracke, in der an allen Tagen die Lagebesprechung mit Hitler stattfand. Sperrkreis 1A war durch einen zwei Meter hohen Maschendrahtzaun abgetrennt und nur durch einen einzigen Eingang zu betreten, den ein Posten – zu diesem Zeitpunkt ich – kontrollierte. Mein Alarmgepäck, mit dem ich um 11 Uhr zur Wache antreten mußte, wie zum Beispiel Stahlhelm, Gasmaske und Maschinenpistole, wurde am Zaun aufgehängt. Feldmütze auf dem Kopf, Pistole am Koppel, so hatte ich jeden zu überprüfen, ganz gleich wer kam, ganz gleich welcher Dienstgrad oder welche Person. Es gab – außer Hitler – nur eine Ausnahme: Generalfeldmarschall Keitel.

Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht.

Salterberg: Alle Personen, die mit Keitel kamen, brauchte ich ebenfalls nicht zu kontrollieren. An diesem Morgen kam er mit einer Gruppe von Offizieren zur Lagebesprechung. Ich sah sie auf mich zukommen, dabei stach ein Offizier heraus: Er trug eine Augenklappe.

Kannten Sie Oberst von Stauffenberg?

Salterberg: Nein, damals sah ich ihn zum ersten Mal.

Sie müssen ihn gekannt haben, denn er war bereits fünf Tage zuvor, am 15. Juli 1944 bei Hitler. Ursprünglich sollte das Attentat schon da stattfinden.

Salterberg: Das stimmt, und ich habe mich später auch gefragt, wie mir am 15. Juli diese Augenklappe entgehen konnte. Von diesem Zusammentreffen Stauffenbergs mit Hitler am 15. Juli existiert allerdings ein historisches Foto – und dort trägt er keine Augenklappe! Wie ich inzwischen herausgefunden habe, ist die Antwort: Stauffenberg trug nach seiner schweren Kriegsverletzung an der Afrikafront mitunter ein Glasauge. Das war am 15. Juli wohl der Fall, so daß ich ihn am 20. Juli erstmals mit Augenklappe sah. Zuvor war er mir ohne diese und in der Gruppe um Keitel natürlich nicht aufgefallen. Zumal ich ja von keinem von ihnen, wie gesagt, den Ausweis zu verlangen hatte. So betrat Stauffenberg auch an diesem 20. Juli unbehelligt den Sperrkreis 1A und ging mit der Gruppe um Keitel, etwa acht Personen, in Richtung der Lagebaracke, die mit Ziegelmauerwerk umbaut war und dreißig bis vierzig Meter von mir entfernt lag.

Dieser 20. Juli war ein sehr heißer Tag, weswegen, wie man heute nachlesen kann, die Fenster der Baracke offenstanden.

Salterberg: Ja, das kam sonst nicht vor. Aber an diesem Tag war es so heiß, die Luft flimmerte richtig. Durch die offenen Fenster konnte ich die Gespräche in der Baracke wahrnehmen, wenn auch nur als Gemurmel. Keitels Gruppe war inzwischen im Inneren verschwunden. So vergingen einige, sehr ruhige Minuten in der brütenden Hitze des Mittags. Dann plötzlich kam der Offizier mit der Augenklappe wieder heraus, allerdings ohne Koppel und ohne Kopfbedeckung.

War das nicht ungewöhnlich?

Salterberg: Nein, es passierte öfter, daß einer noch etwas holen wollte, was er vielleicht vergessen hatte oder was plötzlich für die Lagebesprechung erforderlich geworden war.

Ohne Gürtel und Mütze?

Salterberg: Auch das war nicht außergewöhnlich. Als er dann bei mir am Tor war, mußte ich – ich hatte auch die nach draußen Gehenden zu überprüfen – ihn kontrollieren, weil er nun allein, ohne Keitel, war. Er hatte einen Einmalausweis, den er mir gab. Jetzt konnte ich seinen Namen lesen: Graf Stauffenberg.

Welchen Eindruck machte er auf Sie?

Salterberg: Mir fiel nichts Besonderes auf.

War er hektisch oder in Eile?

Salterberg: Nein, ganz normal, sicher im schnellen Schritt, aber nichts Auffälliges, nicht aufgeregt oder so. Nur ...

Was?

Salterberg: Wenn er zurückgekommen wäre, hätte er einen neuen Ausweis gebraucht.

Hat Sie das nicht gewundert? Wo bekommt er denn so schnell einen neuen Ausweis her, wenn er nur mal eben etwas holen will?

Salterberg: Die Dienststelle, welche die Einladung vorgenommen hat, stellte den erforderlichen Ausweis aus.

Mitverschwörer Ewald-Heinrich von Kleist schilderte Stauffenberg in einem Interview mit dieser Zeitung als eine Persönlichkeit von auffälliger Erscheinung.

Salterberg: Viele Offiziere waren junge Leute von schneidiger Erscheinung. Also mir ist nichts darüber hinaus aufgefallen.

Wohin ging Stauffenberg?

Salterberg: Er verschwand in die Richtung, aus der er zuvor mit Keitel gekommen war. Dann war wieder alles ruhig, bis auf das Gemurmel aus der Lagebaracke. Mein Blick wanderte dorthin zurück, denn das war der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte. Man schaut natürlich dorthin, wo Leben ist, denn sonst war alles ruhig. So vergingen vielleicht vier oder fünf Minuten.

Dann ...

Salterberg: ... die Explosion, ja, mit Otto Günsche, Hitlers Adjutant, der durchs Fenster geflogen kam! Er hatte in diesem Augenblick zufällig genau vor dem Fenster gestanden, was er selbst später in Kriegsgefangenschaft in seinem Lebensbericht an Josef Stalin bestätigte. Ich habe alles genau gesehen. Und dann habe ich, wie gesagt, Alarm gegeben.

Sie waren nicht erschrocken?

Salterberg: Nein, man war ganz kühl. Ich war zuvor Frontsoldat gewesen und hatte dutzendfach schon Explosionen und Granateinschläge erlebt. Das war mir sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Ganz vorschriftsmäßig rief ich sofort das Wachlokal an. Mancher in der Anlage hatte die Explosion ja gar nicht gehört oder für eine von einem Tier ausgelöste Mine im äußeren Sperrkreis gehalten – so was kam mitunter vor. So dauerte es etwa eine Minute, dann heulten die Sirenen und in der ganzen Anlage wurde Alarm ausgelöst. Inzwischen hatte ich meine Ausrüstung angelegt und den Stahlhelm aufgesetzt. Da kam auch schon der zweite Posten, den ich zuvor abgelöst hatte, in voller Montur angerannt.

Wann wurde Ihnen klar, daß es ein Attentat war?

Salterberg: Erst später. In so einem Moment hat man andere Gedanken. Plötzlich stand ein SS-Offizier bei uns. Ich betone immer: Wir waren Wehrmacht! Wir waren der Wehrmachtsdivision Großdeutschland unterstellt, nicht der Partei oder SS. Plötzlich stand da aber dieser SS-Mann und wollte das Kommando übernehmen. Gleichzeitig kamen die ersten Sanitäter, die sich um die Verwundeten kümmern wollten, die inzwischen aus der rauchenden Baracke wankten, schrieen, stöhnten und zum Teil auf dem Rasen davor am Boden lagen. Wir wollten das Tor öffnen, damit die Sanis reinkonnten. Aber der SS-Offizier hat das verweigert, der wollte alles absperren. Da habe ich ihm kurzerhand einen Handkantenschlag auf die Gurgel verpaßt, schließlich waren wir auch im Nahkampf ausgebildet worden, habe ihn auf die Seite geschoben und dann das Tor geöffnet. Inzwischen kam auch Dr. Bernd und später Dr. Morell, Hitlers Leibärzte.

Stauffenberg war sich sicher, Hitler sei tot.

Salterberg: Stauffenberg fuhr in seinem Kübelwagen aufrecht stehend direkt an uns vorbei und versuchte die Szenerie einzusehen, aber er konnte nicht.

Warum?

Salterberg: Er konnte wohl nur uns und ein paar Meter dahinter sehen, sonst war ihm der Blick durch Buschwerk verdeckt, zumindest im Vorbeifahren.

Haben Sie sich nicht gewundert, daß er da plötzlich vorüberfährt?

Salterberg: Eigentlich nicht. Er hat die Explosion abgewartet und fuhr dann mit einem Kübelwagen der Fahrbereitschaft von deren Standort ab und an mir vorbei, vielleicht noch fünfzig oder sechzig Meter bis an die Wache 1. Die Strecke konnte ich aber nicht mehr einsehen.

Konnten Sie Hitler sehen?

Salterberg: Zuerst nicht. Eigentlich waren wohl schon alle aus der Baracke raus, und die Luft wurde teilweise wieder klarer. Inzwischen standen bestimmt so an die hundert Mann um uns herum am Zaun, die alle neugierig waren. Es ging ein Gemurmel durch die Menge: „Wo ist denn der Führer?“ Der war noch nicht draußen. Dann auf einmal kam er zwischengehakt bei Keitel und Günsche, die ihn führten. Der nicht so schwer verletzte Günsche war von draußen wieder in die verwüstete Baracke gegangen, um nach Hitler zu sehen. Vor der Baracke waren zwei, drei Stufen, sie gingen hinunter und ein bißchen auf dem Rasen weiter, und dann drehten sie sich um und Hitler hat dann minutenlang die Baracke angestarrt und hat sich das von außen angesehen. Dann drehten sie sich erneut um und führten Hitler zurück zu seinem Bunker.

Welchen Eindruck machte Hitler?

Salterberg: Zusammengeknickt, vornübergebeugt im Schockzustand, die Hose hing in Fetzen herunter, er blutete an den Händen und im Gesicht.

Sie blieben noch bis elf Uhr nachts im Einsatz.

Salterberg: Ja, aber irgendwann waren alle Verwundeten abtransportiert, so daß wir das Tor wieder schlossen. Nach zwölf Stunden wurde ich endlich abgelöst.

Erst 1984, vierzig Jahre später, wurden Sie als Zeitzeuge entdeckt.

Salterberg: Das war zum vierzigsten Jahrestag des 20. Juli, damals stand in der Zeitung, das ZDF suche Zeitzeugen. Ich rief dort an und wurde erst nicht ganz für voll genommen. Aber dann rief mich doch Guido Knopp persönlich zurück und sprach recht lange mit mir. Schließlich schickte er mir einen seiner Leute. Der hatte einen Lageplan der Wolfsschanze dabei, hielt eine Hälfte zu, und ich mußte dann die Gebäude und Bereiche benennen. So hat das angefangen, und seitdem haben die immer mal wieder mit mir Aufnahmen gemacht.

Zunächst hatten Sie das Attentat verurteilt.

Salterberg: Die Meinung bei uns in der Truppe war ziemlich einhellig. Unter anderem auch wegen der Verletzten und Toten. Die kannte man ja, das waren zum Teil Leute, zu denen man im Laufe der Zeit eine gewisse persönliche Bindung aufgebaut hatte. Außerdem wußten wir damals auch noch nichts von den Greueltaten der Nazis und den weiteren Gründen für ein solches Attentat. Wir haben als Soldaten geurteilt und betrachteten damals Stauffenberg als Feigling.

Wie ist Ihre Meinung heute?

Salterberg: Heute sehe ich seine Tat als gerechtfertigt an. Aber dennoch bleiben da die unbeteiligten Opfer des Anschlags. Denn Hitler hat überlebt, tödlich getroffen hat es andere.

Mitverschwörer Philipp von Boeselager nannte Stauffenberg in einem Interview mit dieser Zeitung einmal einen „deutschen Helden“.

Salterberg: Das kann man so und so sehen.

Was meinen Sie?

Salterberg: Sollen die Angehörigen der Opfer sagen: „Stauffenberg war ein Held, weil er meinen Vater umgebracht hat“?

Wie sehen Sie es?

Salterberg: Also ich habe von einem Helden eine andere Vorstellung.

Nämlich?

Salterberg: Ich habe mich ja begeistert und aus Patriotismus zur Wehrmacht gemeldet. Aber das wahre Heldentum ist doch aus Angst geboren. Wir hatten viel Angst da draußen an der Front, sehr viel Angst. Die einzige Möglichkeit war zu beten. Und viele haben sich dann als Helden bewiesen, weil sie ihre Kameraden retten wollten. Wenn wir im Kampf eine Heldentat vollbrachten, bekam irgendein hoher Offizier ein Ritterkreuz umgehängt. Die echten Helden aber, das waren in der Hauptsache die einfachen Landser draußen an der Front.

 

Kurt Salterberg, als Freiwilliger 1942 einberufen (Foto als Soldat rechts), kam er nach der Grundausbildung zum Fronteinsatz nach Rußland, diente dort schließlich als Geschützführer in einer Infanteriegeschützkompanie. Im Oktober 1943 wurde der Gefreite als Wachsoldat in Hitlers Hauptquartier abkommandiert. Auf die Frage warum, antwortet Salterberg achselzuckend: „Das kann ich nicht sagen, weil mir diese Frage auch nie jemand beantwortet hat.“ Schließlich wurde er wieder zur Fronttruppe versetzt und kämpfte Ende 1944 in den Ardennen. Nach dem Scheitern der Offensive kam er erneut an die Ostfront, wo er im März 1945 bei Lauban in Schlesien einen Lungendurchschuß überlebte. Zu Kriegsende im Lazarett, fiel er schließlich in amerikanische Hand. Später arbeitete der Kaufmännische Angestellte in der Verwaltung eines Autohandels nahe Pracht/Westfalen, wo er 1923 geboren wurde. Für seinen Fronteinsatz wurde Salterberg zum Unteroffizier befördert und mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet.

Foto: Die Minuten nach dem Bombenanschlag auf Hitler (Spielfilmszene aus „Stauffenberg“ von Jo Baier, 2004): „Ich habe alles genau gesehen“

 

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