© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Heroismus als Motor des Lebens
Wir sind Helden
von Manfred Ritter

Gesundheit und eine möglichst mühelose Erfüllung aller Wünsche – so stellen sich die meisten Menschen ein glückliches Leben vor. Ihr Ideal wäre ein Dauerurlaub in einem Garten Eden, frei von Problemen, ohne jeden körperlichen oder seelischen Schmerz. Diesen Traumbildern steht die harte Realität der Naturgesetze gegenüber, die alles Leben zu einem ständigen Kampf ums Dasein und damit zum Heroismus zwingt.

Auch der Mensch ist diesem heroischen Prinzip unterworfen, und dies in weitaus höherem Maße, als es ihm bewußt ist. Der Kampf reicht von der Verteidigung des Organismus gegen Krankheiten bis zu schmerzhaften Auseinandersetzungen im geistig-seelischen Bereich. Er umfaßt das passive Erdulden genauso wie freiwilliges aktives Handeln. Ein aktiver Kampf ist vor allen Dingen ein Kampf gegen die eigene Schwäche. Er erfordert Selbstüberwindung. In diesem schmerzhaften Überwindungsprozeß erreicht der Heroismus seinen qualitativen Höhepunkt.

Wir können dem Zwang zum Heroismus nicht entgehen, weil wir einem Dauerkonflikt zwischen der Sehnsucht nach vermeintlich paradiesischen Zuständen und der Notwendigkeit zu ständigen Anstrengungen unterworfen sind. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen passiver Bequemlichkeit und aktivem Heroismus ist gewaltig. Wir empfinden sie meist als sehr unangenehm. Sie ist aber notwendig, denn sie erzeugt die Energie, die das Leben in Bewegung bringt. Nur der Zwang zum Heroismus kann die kraftvollen Funken erzeugen, an denen sich das Feuer des Lebens immer wieder entzünden kann.

Ohne ihn wäre das Leben nur ein Dahinvegetieren. Alle Kulturen haben dies instinktiv erkannt und den Heroismus entsprechend gewürdigt. Sie haben ihn durch weltliche und religiöse Heldengestalten symbolisiert und verehrt. Möglicherweise hat man ihn damit auf einen zu hohen Sockel gestellt und so die Analyse des alltäglichen Heroismus, der von allen Menschen verlangt wird, vernachlässigt. Dabei ist gerade dieser alltägliche Heroismus entscheidend für das Schicksal des einzelnen und der Gesellschaft.

Ihn bewußt zu pflegen, wäre daher ein wichtiges Anliegen einer vernünftigen Politik. Die Kämpfe der Gladiatoren im antiken Rom werden heute als sichtbares Zeichen von Dekadenz bewertet, denn das Publikum verlangte von ihnen stellvertretend jene Tapferkeit, die es selbst nicht mehr aufbringen wollte. Dieser Stellvertreter-Heroismus hat auch heute wieder Konjunktur. Sportereignisse haben die gleiche Funktion wie die Filmindustrie, die es den Menschen ermöglicht, sich in die Rolle von Helden hineinzuversetzen, ohne sich selbst den Anstrengungen und Leiden auszusetzen, die zum Heroismus nötig sind. Deshalb sollten die Menschen von der Zuschauerrolle zum aktiven Mitmachen gebracht werden.

Dazu müßten sie sich allerdings erst einmal bewußt werden, worin das entscheidende Merkmal des Heroismus besteht. Im Gegensatz zu volkstümlichen Vorstellungen sind es nicht die spektakulären Taten, die einen Helden ausmachen, sondern der Kampf gegen die eigene Schwäche, der diesen Taten vorausging. Herkules war nicht wegen seiner Taten ein Held, sondern weil er diese freiwillig vollbrachte. Er konnte zwischen einem bequemen Leben und dem schmerzhaften eines Helden wählen und entschied sich für den Heroismus.

Auch Siegfried kann nur dann als echter Held gewürdigt werden, wenn er Furcht vor dem Drachen empfunden hat und seine Angst vorher – in einem Kampf gegen sich selbst – überwinden mußte. Anders als es Richard Wagner in seiner Oper darstellt („der das Fürchten nie gelernt“), mußte er natürliche Furcht empfinden, um mehr als nur ein Draufgänger zu sein. Der Drache gilt nicht umsonst als Symbol der eigenen Angst, die der Mensch besiegen muß. Die Darstellung des Heroismus als schmerzhafte Selbstüberwindung ist beim Publikum allerdings weniger beliebt als die scheinbar mühelose Tapferkeit eines Draufgängers. Denn der Mensch sehnt sich zwar instinktiv nach Tapferkeit, er möchte diese aber möglichst anstrengungslos erreichen.

Auch wenn vom Normalbürger in der Regel keine spektakulären Heldentaten erwartet werden, sollte er sich bewußt sein, daß sein Alltagsleben viele Gelegenheiten dazu bietet, gegen den „inneren Schweinehund“ anzukämpfen. Diesen alltäglichen Heroismus symbolisiert der tragische griechische Held Sisyphos wesentlich besser als andere berühmte Heldenfiguren. Sisyphos mußte als Strafe der Götter einen Felsen den Berg hinaufrollen und verlor ihn jedesmal kurz vor dem Gipfel. So begann die qualvolle Arbeit immer wieder von neuem. Läßt sich die Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns besser greifen als im Sprachbild der Sisyphusarbeit? Obwohl letztlich alles, was wir tun, der Vergänglichkeit anheimfällt, treten wir den Lebenskampf tagtäglich an, als ginge es um die Ewigkeit. Darin liegt mehr Tapferkeit als in spektakulären Einzeltaten.

Natürlich wird Heroismus auch häufig durch die Umstände erzwungen. Dies gilt für den Kampf gegen Krankheiten, das Ertragen von körperlichen und seelischen Schmerzen und den Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen. Obwohl dabei nicht viel Raum für freiwillige Entscheidungen bleibt, ist auch hier noch Heroismus zu finden. Der Mensch muß einen ständigen Tribut an das Leben entrichten, das oft mehr Schmerzen als Vergnügen anzubieten hat. Insoweit zwingt das Leben selbst Feiglinge zum Heroismus.

Der Heroismus ist deshalb wesentlicher Bestandteil allen Lebens und untrennbar mit ihm verbunden. Solange das Leben existiert, wird es daher auch Helden der Lebensbewältigung in allen Varianten geben. Diese Varianten reichen von einem durch die Umstände erzwungenen Heroismus bis zur freiwillig erbrachten Heldentat eines Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Je größer die Freiwilligkeit ist, um so mehr Willenskraft muß man einsetzen, um seine inneren Widerstände zu überwinden. Wenn die Umstände bereits einen erheblichen Druck in eine bestimmte Richtung ausüben, fällt die Entscheidung zum Heroismus leichter. Die „heroische Qualität“ hängt also weitgehend von der Größe des vom Menschen jeweils zu überwindenden inneren Widerstandes ab.

Deshalb verdienen die Helden des Alltags oft mehr Bewunderung als die im Rampenlicht stehenden. Dies gilt besonders für jene, die sich mit viel Idealismus im Beruf und Privatleben für ihre Mitmenschen einsetzen und dafür Zeit und Energie opfern. Mit dieser Definition des Alltagsheroismus könnten sich die Menschen besser identifizieren, da sie ständig Leistungen erbringen müssen, die zwar nicht spektakulär sind, aber trotzdem die Überwindung von teils erheblichen inneren Widerständen und Schwächen erfordern. Wer sich daher bewußtmacht, daß jede Selbstüberwindung Heroismus ist, kann auch den Kampf gegen die eigenen Schwächen besser kultivieren. Wenn sich die große Mehrheit über die Notwendigkeit eines solchen individuellen Heroismus einig wäre, könnte dies auch manche gesellschaftspolitische Fehlentwicklungen in die Richtung einer spätrömischen Dekadenz verhindern. Völker, die zu großer Selbstdisziplin in der Lage sind, sind meist erfolgreicher als jene, die den Wunsch nach einem möglichst bequemen Leben als Leitmotiv haben.

Dies wird uns heute von den Chinesen und anderen asiatischen Völkern anschaulich vor Augen geführt. Sie sind dabei, den Westen wirtschaftlich und machtpolitisch zu überholen. Geht es den Menschen über längere Zeit zu gut, leidet ihre Bereitschaft zur Selbstdisziplin – wie wir es heute in den westlichen Industriestaaten erleben. Dies bezieht sich auch auf die Geisteshaltung der Eliten, die vielfach nicht mehr das Gemeinwohl, sondern nur noch die skrupellose eigene Bereicherung im Sinn haben.

Unseren politischen Eliten fehlen leider die bürgerlichen Ideale und die nötige Tapferkeit, sie gegen die Exzesse von Kapitalismus und Sozialismus durchzusetzen. Sie gefährden damit alles, was viele Bürger mit Mühe und Selbstdisziplin aufgebaut haben. Deshalb ist es dringend nötig, im moralisch verfallenden Westen die alten konservativen Tugenden, die entscheidend auf Selbstüberwindung und damit auf Heroismus aufgebaut sind, wiederzubeleben. Hier geht es um „Grundgesetze“ des Lebens, deren Mißachtung zur Zerstörung der Lebensgrundlagen führt. Dies haben alle erfolgreichen Kulturen und Religionen erkannt und deshalb Tapferkeit, Selbstüberwindung und Selbstaufopferung als Weg beschrieben, der zur Erhöhung und Erlösung des Menschen führt.

Heroismus ist in der Vorstellung der Menschen in allen Kulturkreisen sehr stark mit dem tapferen Krieger verbunden. Die patriotische Gesinnung, die die Tapferkeit der Soldaten beflügelt hat, ist allerdings erst seit der Französischen Revolution richtig kultiviert worden. Erst die Beseitigung der hierarchischen Gesellschaftsordnung hat das moderne nationale Denken hervorgebracht. Der Söldner der frühen Neuzeit wurde zum Soldaten, als er sich mit dem eigenen Nationalstaat zu identifizieren begann. Die Einstellung der Soldaten zum eigenen Staat ist daher entscheidender für die Qualität einer Armee als die Frage nach einer Volks- oder Berufsarmee.

Mindestens ebenso wichtig wie die Tapferkeit der Armee wäre die Tapferkeit der Politiker. Wenn diese aus bequemer Anpassung oder aus hysterischer Feigheit Fehlentscheidungen treffen, können sie einen Staat ruinieren. Ein solches Beispiel konnten wir kürzlich in der Energiepolitik erleben, als sich vermeintlich konservative Politiker völlig der Propaganda der Massenmedien unterworfen haben. Die Feigheit vor Anstrengung und Mühe erfaßt offenbar nicht nur arbeitsunwillige Hartz-IV-Empfänger.

Wer den Heroismus aus religiöser Sicht betrachtet, muß ihn als einen vom Schöpfer gewollten und existentiellen Bestandteil des Lebens erkennen. Der Mensch muß sich im irdischen Leben bewähren, und dazu sind Mut und Tapferkeit unumgänglich. Sie gehören damit auch unter religiösen Aspekten zu den größten Tugenden der Menschen. Alle großen Religionen appellieren deshalb an diese heroische Seite des Menschen, wenn sie ihn auffordern, seine negativen Eigenschaften zu überwinden und sich anständig gegenüber seinen Mitmenschen zu verhalten. Das als „Belohnung“ nach dem Tode versprochene Paradies wird allerdings oft in sehr unheroischen Dimensionen geschildert. Dies liegt wohl daran, daß das menschliche Vorstellungsvermögen nicht in der Lage ist, sich ein Bild von der göttlichen Ewigkeit zu machen.

Möglicherweise können uns die Berichte der Mystiker aller Religionen einen Einblick in diese Dimensionen geben. Sie beschreiben die Begegnung mit dem Göttlichen als unvorstellbar grandios und überwältigend. Wer ein solches Paradies erlebt, benötigt kein irdisches mehr. Um es auf Erden zu erleben, mußten die Mystiker allerdings einen fast übermenschlichen Heroismus zur Selbstüberwindung aufbringen. War ihre unio mystica (die mystische Vereinigung mit Gott) und das damit verbundene Erlebnis einer paradiesischen Seligkeit die Belohnung für ihre vorangegangene ungeheuere Tapferkeit?

 

Manfred Ritter, Jahrgang 1941, Regierungsdirektor a.D., Autor, Gastkommentator in der FAZ und der Welt. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Notwendigkeit von Religion („Der Materialismus frißt seine Kinder“, JF 29/10).

Foto: Ein Leben gegen die Schwerkraft: Unser tägliches Tun gleicht der Sisyphusarbeit (Franz von Stuck, 1920)

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