© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Leben auf dem Pannenstreifen
Die Latte-Macchiato-Generation kommt in die Jahre, und die Journalistin Katja Kullmann gibt ihrem Frust an der verweigerten Teilhabe freien Lauf
Markus Brandstetter

Irgendwann im Jahre 2009 und kurz vor ihrem 40. Geburtstag stellt die freie Journalistin Katja Kullmann (Emma, taz) fest, daß sie kein Kind hat, keinen Mann, kein Haus, kein Auto, keine Ersparnisse, keinen Job und kein Geld. Was sie dagegen hat, ist ein Repertoire von schlauen Sprüchen („Ändere dich oder stirb“), eine Abneigung gegen Wohnlandschaften, polierte Autos und Berufe mit Festanstellung und den festen Glauben daran, sie hätte ein Geburtsrecht auf ein Leben ohne Hierarchien, in dem Geld, Geschlecht und Herkunft keine Rolle spielen. Zwanzig Jahre nachdem Frau Kullmann ausgezogen ist, die Welt erst zu erobern und dann zu verändern, muß sie Hartz IV beantragen, um Transferzahlungen zu erhalten von Leuten mit Festanstellung, Ecksofas und polierten Autos. Wenn das keine Ironie ist!

Beweist Frau Kullmanns Buch nun wirklich, wie die FAZ ihr einfühlsam attestiert, daß ein Mensch, der etwas weiß und kann und halbwegs kreativ ist, in diesem Land auf keinen grünen Zweig kommt? Existiert bei uns also ein kreatives Prekariat, weil die Gesellschaft Talente nicht ausreichend bezahlt?

Schauen wir uns zuerst doch einmal an, was die Autorin alles nicht kann: Sie kann weder eine Bilanz noch eine Partitur lesen; sie spielt kein Instrument und kann einem die Weltlage nicht erklären; sie kann weder Software programmieren noch Hardware zusammenschrauben, noch die Flugbahn einer Rakete berechnen, und mit Fremdsprachen und einer tiefergehenden Kenntnis von Geschichte, Literatur und Philosophie ist es auch nicht weit her. Und obwohl sie im Studium der Politologie manch brauchbares Rüstzeug für das Bestehen des Alltags ergattern konnte („Der männliche Orgasmus – Penetration und Aggression“), ist das einzige, was sie tatsächlich kann: schreiben. Aber schreiben können viele, und manche können es sogar noch besser, weil sie im Gegensatz zu Frau Kullmann nicht nur über Meinungen verfügen, sondern über Sachkenntnis.

Natürlich weiß auch Katja Kullmann etwas, aber dieses Wissen besteht hauptsächlich aus den Versatzstücken der Theorien von den Poststrukturalisten bis zu Wittgenstein und Habermas. Erklärt wird damit gar nichts, aber die Autorin will auch nicht erklären, sondern meinen. Und was sie nicht alles meint: Reihenhäuser, Flötenstunden, selbstgemachte Marmelade, Kinder, Ehemänner, Bionade, Manufactum und feste Arbeitsverhältnisse – all das und vieles andere ist spießig, borniert und dumm. Und weil Meinungen viel schöner sind, wenn man sie mit anderen teilen kann, umgibt sie sich mit Menschen, die denken wie sie: Moderne Taglöhner, die sich gegenseitig die Wunden lecken und die eines verbindet: der Haß auf Gesellschaft und Wirtschaft und der Neid auf die Etablierten, die genau deshalb in Grund und Boden verachtet werden müssen, damit das eigene kleine Selbst nicht täglich kollabiert.

Und dabei durchzieht das ganze Buch eine unterschwellige Sehnsucht nach dem bürgerlichen Leben, dem sie doch selber entstammt. Als sie der längst verheirateten besten Freundin auf deren ländlicher Waschbetonterrasse zwischen Kindern, Mann und Kuchen gegenübersitzt, da merkt sie, daß die Freundin – obwohl finanziell genauso am Ende – immerhin etwas hat, was Frau Kullmann ganz und gar abgeht: Ruhe, Zufriedenheit und eine Familie.

Hier blitzt für einen Moment Ehrlichkeit auf, Selbstkritik sogar, und die könnte weh tun, was nicht sein darf, weshalb die atemlose Tirade gegen Wirtschaft und Gesellschaft sofort weitergeht und die anderen einfach schuld sein müssen. Das ist schade, denn Frau Kullmann hat einen scharfen Blick für Fehler und Schwächen (zumindest bei anderen) und formuliert witzig und treffend, vergeudet ihr Schreibpotential also. Daß die FAZ dieses Elaborat der flotten Vorurteile und schicken Schlagworte allerdings für ein „wichtiges soziologisches, politisches Buch“ hält, sagt wenig über das Buch, aber viel über die FAZ aus.

Katja Kullmann: Echtleben. Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011, gebunden, 256 Seiten, 17,95 Euro

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