© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Sein und Schein der Vielfalt
Gesellschaft von morgen: Der zunehmenden Individualisierung zum Trotz droht uns die politische Einheitssoße
Jost Bauch

In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Der Soziologe und Journalist Armin Pongs ist in einem zweibändigen Werk genau dieser Frage nachgegangen und hat prominente Soziologen von Amitai Etzioni über Anthony Giddens bis Richard Sennett befragt über die Identität der modernen Gesellschaft. Resultat: Es gibt keine einheitliche, konsensfähige Gesellschaftsbeschreibung innerhalb der Soziologie. Die Disziplin ist in dieser Frage, was sie immer war: zerstritten. Sie spiegelt so in gewisser Weise den Zustand ihres Forschungsobjektes wider.

Insbesondere die Frage, ob die
moderne Gesellschaft mehr in Richtung Differenzierung oder Integration treibt, ist umstritten. Vertreter der modernen Systemtheorie (Niklas Luhmann), der sozialen Schichtforschung (Stefan Hradil) und der Konfliktforschung (Wilhelm Heitmeyer) neigen dazu, den Akzent auf mehr Differenzierung zu legen. Die gesellschaftlichen Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft) driften weiter auseinander, und es kommt zu einer Pluralisierung der gesellschaftlichen Lebensstile. Vertreter der sozial-ökologischen Erneuerung (zum Beispiel  Ulrich Beck) betonen mehr die integrativen Aspekte der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung. Es kommt zunehmend zu sozial-ökologischen Risiko- und Gefährdungsdiskursen, die gesamtgesellschaftliche Resonanz auslösen und als eine Art gesellschaftliche Einheitssemantik auftreten.

Die „Atomwende“ der CDU ist in diesem Zusammenhang als der verzweifelte Versuch zu werten, an diese Gefährdungsdiskurse Anschluß zu finden. Diese Diskurse sedimentieren sich in den gesellschaftlichen Strukturen und bestimmen in zunehmendem Maße die gesamtgesellschaftliche Entwicklung.  Ulrich Beck konstatiert eine „zweite Moderne“, die in bezug auf die Modernisierungsfolgen „reflexiv“ geworden ist. Die „Risikogesellschaft“, so der Titel seines Grundwerkes, muß die Risiken des eigenen Handelns ins Kalkül ziehen, die Folgen der gesellschaftlichen Entwicklung müssen in den Planungen und Entwürfen zur Gesellschaftsentwicklung von vornherein mit berücksichtigt werden.

Unter der Ägide der (unter anderem ökologischen) Nachhaltigkeitspostulate wachsen die Verhaltenszumutungen an den einzelnen. Vordem unpolitische gesellschaftliche Bereiche werden mit Anforderungen einer ökologischen und antidiskriminativen  „Correctness“  konfrontiert. Neben der großen Politik entstehen Sphären der „Subpolitik“, also des politisch und sozial korrekten Agierens von Betrieben, Verwaltungen, Gruppierungen und Individuen.

Beck sieht das alles als Chance zu mehr Demokratie, dahinter verbirgt sich allerdings viel eher das Gespenst einer gutwilligen, ökologischen und sozial korrekten Soft-Diktatur, die den Menschen zunehmend vorschreibt, wie sie zu leben haben. Die Einheit der Gesellschaft besteht dann jenseits der gesellschaftlichen Teilbereiche in dieser standardisierten Leitvorstellung der Risikogesellschaft, die jeden Winkel der gesellschaftlichen Erscheinungen in die Pflicht nimmt. Die in Umlauf gesetzten Risikodiskurse müssen wissenschaftlich untermauert, politisch handhabbar und massenmedial inszeniert sein, damit sie den Menschen erreichen. Die Abhängigkeit der einzelnen von der massenmedialen Informationsbewirtschaftung wird also steigen.

Unabhängig von diesen semantischen Vereinheitlichungstendenzen vornehmlich auf politischer Ebene, da ist sich die moderne Soziologie relativ einig, kommt es zu weiteren Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen in den individuellen Lebensstilen. Dabei läßt sich beobachten, wie sich auch die politischen Einstellungen von den sozio-ökonomischen Zusammenhängen abkoppeln und mehr und mehr zu einer milieuspezifischen Stilfrage werden. Wie Gerhard Schulze in seinem Werk „Die Erlebnisgesellschaft“ feststellt, bestimmt nicht mehr die soziale Lage (allein) die Zugehörigkeit zu einer sozialen Großgruppe, sondern der persönliche Stil und damit auch die Art des Konsumierens spezifischer Erlebnisangebote. Schulze unterscheidet fünf verschiedene Milieus, die als „alltagsästhetische Schemata“ die gesellschaftlichen Einstellungsmuster bestimmen: das Selbstverwirklichungsmilieu, das Niveaumilieu, das Unterhaltungsmilieu, das Integrationsmilieu und das Harmoniemilieu.

Während im Selbstverwirklichungs- und im Niveaumilieu eher die gehobenen (Bildungs-)Schichten zu finden sind, so treffen wir in den anderen Milieus eher die Unter- und Mittelschichten. Die politischen Anschauungen in diesen Milieus liegen quer zu den parteimäßigen Differenzierungen des politischen Systems, so daß die politische Grobeinteilung in sozialdemokratisch, bürgerlich, liberal-freiheitlich nicht mehr greift. Dies führt zu den aktuell beobachtbaren Verwerfungen in der Parteienlandschaft, wobei die Parteien versuchen, sich mehr oder weniger
erfolgreich an diese Trends anzupassen.

Es wäre interessant, die Wählerklientel der Parteien auf diese Milieuzugehörigkeiten zu untersuchen. Dann wird sich zeigen, daß ein Großteil des Bürgertums, das sich als Selbstverwirklichungsmilieu einstuft, ins grüne Lager abwandert. Für die CDU verbleiben Teile des Niveaumilieus und Teile des Integrations- und Harmoniemilieus, wobei sie sich diese Milieus mit den Sozialdemokraten teilen muß, die ansonsten im Unterhaltungsmilieu dominieren. Allgemein werden die Wahlentscheidungen zunehmend spontan und situationsabhängig getroffen, so daß mehr und mehr die vielbeschworene „Kampagnenfähigkeit“ einer Partei für den Wahlausgang entscheidend ist.

Insgesamt, so die soziologische Expertise, wird die Gesellschaft von morgen beides zugleich: uniformer und pluraler. Uniformer wird ihre politisch-gesamtgesellschaftliche Ausrichtung, pluraler werden weiterhin die Lebensformen und Alltagsroutinen. Der Ordnung halber muß dabei aber darauf hingewiesen werden, daß die Pluralisierung der Lebensstile lediglich die andere Seite der politisch-korrekten Verhaltensdisziplinierungen darstellt. Die Pluralisierung vermittelt den „schönen Schein der Freiheit“, wobei die Kernfragen der Lebensgestaltung längst unter politische Kuratel gestellt sind. Die Pluralisierungsoptionen außerhalb dieser Kernbereiche haben eine Ablenkungs- und Kompensationsfunktion.

Man muß einem Großteil der etablierten Soziologie an dieser Stelle den Vorwurf machen, daß sie diese Dialektik von Freiheit und Zwang übersieht oder übersehen muß.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Medizinsoziologie an der Universität Konstanz

 

Gesellschaftliche Milieus

Vor allem für die Marktforschung werden die Milieustudien des Sinus-Instituts verwendet, die sogenannten „Sinus-Milieus“. In ihnen werden Menschen einerseits nach ihrem sozialen Status (y-Achse) gruppiert, andererseits nach ihrer Lebensweise und ihren Wertvorstellungen (x-Achse). Daraus ergeben sich Gruppen von Gleichgesinnten, wobei es durchaus zu Überschneidungen untereinander kommt.

Das traditionelle Milieu vereint das Streben nach Sicherheit und Ordnung, zu ihm gehören sowohl (Klein-)Bürger als auch Angehörige der klassischen Arbeiterschaft. Politisch hat hier die Union den größten Rückhalt. Diametral entgegen steht das expeditive Milieu, dem die „individualistische Avantgarde“ angehört. Neben der leistungsbereiten, angepaßten bürgerlichen Mitte stehen das flexible und stärker am Nutzen orientierte adaptiv-pragmatische Milieu. Die „Bannerträger“ der politischen Korrektheit finden sich im sozialökologischen Milieu, das den Grünen zuneigt. Für sie votieren auch viele der postmateriellen, liberalen Intellektuellen.

Liberal-intellektuelles Milieu 7 %; Konservativ-etabliertes  Milieu 10 %; Sozialökologisches Milieu 7 %; Milieu der Performer 7%; Expeditives Milieu 6 %; Adaptiv-pragmatisches Milieu 9 %; Traditionelles Milieu 15 %; Bürgerliche Mitte 14 %; Hedonistisches Milieu 15 % ;Prekäres Milieu 9 %

Foto: Aufwärts und abwärts: Unterscheidungsmerkmal ist der Lebensstil, weniger die soziale Stellung

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