© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Pankraz,
S. Hessel und die freche Ohnmacht

Eine echte Neuerung ist immer frech“, verkündete selbstgefällig der greise Monsieur Stéphane Hessel (93) vorige Woche in der Pariser Zeitung Le Monde. Er sagte nicht „keck“ (hardi), nicht einmal „dreist“ (effronté), sondern gebrauchte das gröbste Wort, das ihm für das, was er ausdrücken wollte, zur Verfügung stand: impertinent, also „unverschämt“, „ungezogen“, „flegelhaft“. Jede neue Idee im geistigen Leben sei zunächst einmal, so Stéphane Hessel, eine unverschämte Flegelei. Und er meinte es vollkommen ernst.

Hessel ist im letzten Jahr europaweit bekannt geworden durch seine politische  Broschüre „Indignez-vous!“ (in Deutschland unter dem Titel „Empört euch!“ unterwegs), die inzwischen mehr als eine Million mal verkauft worden ist und riesige Gewinne einfuhr. Der Autor hatte aber von vornherein auf sämtliche Tantiemen verzichtet und gilt seitdem als unangreifbare Respektsperon, die jenseits von schnödem Mammon und über jedem Kampf der Parteien steht. Manche seiner Leser sind nun einigermaßen schockiert. Wie kommt der Mann dazu, so uncharmant und pauschal über Neuheiten und Neuerer zu urteilen?

Impertinenz, bewußt plazierte Frechheit, galt ja lange Zeit  (und gilt hier und da auch heute noch) als eine der größten Untugenden und überdies als ausgesprochen unappetitlich. Kein einziger Schriftsteller oder Rhetor der Vergangenheit hat der Frechheit Kränze gewunden, im Gegenteil, ihre Verurteilung erfolgte in seltener Einhelligkeit. Der elegante Cicero hielt sie für „eine der schlimmsten Sünden“ und beklagte, daß sie strafrechtlich wegen ihrer diffusen Begrifflichkeit so schwer zu fassen sei. Ihr „größter Reiz“, so dozierte er in einer seiner großen Reden, bestehe in der Hoffnung der Frechen auf Straflosigkeit.

Auch die meisten anderen Geistesgrößen, von Platon bis Albert Camus und von Demokrit bis Jürgen Fuchs, hielten die Frechheit eher für einen Ausfluß der Feigheit statt des Wagemuts und des kecken Ausgreifens in bisher unbetretenes Gelände. Alle waren sich einig: Im Gegensatz zum Kühnen, der allen Widerständen zum Trotz unbeirrt für das für Recht Erkannte eintrete und es durchzusetzen strebe, sei der Freche schnell bereit, Rückzieher zu machen, sobald man ihm energisch genug entgegentrete.Von Neuerung oder auch nur vom Willen zur Neuereung keine Spur.

Tatsächlich ist die Frechheit ein typisches Kind permissiver Zustände. Sie spiegelt Mut vor, wo er gar nicht nötig ist. Ihre große Zeit kommt, wenn die Menschen glauben, vor nichts mehr Achtung haben zu müssen. Dann darf der Freche davon ausgehen, daß er sich mit der Masse im augenzwinkernden Einverständnis befindet. Er bläht sich auf wie ein Luftballon, und bald ist es soweit, daß ihn die Pädagogen in den Schulbüchern als Leitfigur anpreisen und die Pfaffen ihm gar Altäre errichten. Die Gegenwart liefert genügend Beispiele.

„Frechheit ist doch was Nettes“, heißt es mittlerweile allerorten. Die Medien säuseln von der „köstlichen Frechheit“ dieser oder jener Sendung, und die Sprache hat sich dem Trend angepaßt. Die schnippische Person von einst ist zum „frechen Gör“ geworden, der kecke Mut zum „frechen Maul“. Wo einstmals eine ganze Palette von Vokabeln mit fein abgestuften Valeurs für die gemeinte Sache zur Verfügung stand, gibt es weitgehend nur noch die Frechheit – ausgerechnet dasjenige Wort aus der Palette , das als einziges nur negative Assoziationen und Bedeutungen transportiert.

Die ganze übrige Palette wird dadurch blamiert und in Verdacht gebracht, was sehr schade ist. Schließlich gibt es kaum etwas Erquickenderes als unternehmungslustige junge Leute, die mit Keckheit schlecht Überkommenes in Frage stellen, es mit jugendlichem Übermut in lustige Beleuchtung rücken und mit routinefreiem Blick nach Besserem Ausschau halten. Sie können dabei durchaus höflich bleiben und gute Erziehung demonstrieren, sie sollen es sogar. Entfesselte Frechheit würde nur ins Nichts führen.

Mit Vorliebe macht sich diese Frechheit an Personen und Verhältnissen zu schaffen, die sich nicht wehren können, also beispielsweise an alten Texten, die keinen urheberrechtlichen Schutz mehr genießen. Die werden so lange traktiert und umgeschrieben, bis sie das Gegenteil ihrer ursprünglichen Bedeutung aussagen, wobei sich sehr scharf der parasitäre Antrieb der Frechheit enthüllt. Bei Lichte betrachtet ist sie steril und unschöpferisch. Ihr Geschäft ist es nicht, das Vorhandene mit Neuheiten zu beliefern, vielmehr soll es lediglich ins Absurde verdreht und dadurch kulturell trockengelegt werden.

Bezeichnenderweise kann das Wort „Frechheit“ in vielen Fällen ohne weiteres durch das Wort „Schamlosigkeit“ ersetzt werden. Wer aber die Scham verliert, befindet sich – nach Sigmund Freuds überzeugender Beweisführung – bereits im ersten Stadium des Schwachsinns. Über-Ich und kollektives Es sind weitgehend dispensiert, das Individuum sieht sich auf die reine, ungeformte Triebhaftigkeit seiner frühen Jahre zurückgeworfen, es wird infantil und nähert sich mit Tempo einer vorkulturellen Seinsphase.

Wie man es auch dreht und wendet, die Begeisterung von Stéphane Hessel für die Impertinenz als angeblichem Motor praktizierbarer und die Seelen erquickender Neuerungen bleibt vollkommen unverständlich. Keine einzige Neuerung, die wirklich eine war und positiven Bestand hatte, verdankt sich der Frechheit. Immer schwang, bei aller ausgreifenden Keckheit der Neuerer, Respekt und hingebungsvolles Interesse für das Bestehende und organisch Wachsende mit. Der bloß Freche gleicht nicht einmal dem sprichwörtlichen blinden Huhn. Er findet nie ein Korn.

Gegen Stéphane Hessels Essay sei damit nichts gesagt. Natürlich muß man sich für eine Sache stark machen, um sie zustande zu bringen. Man muß sich deshalb zwar nicht extra empören, wie der Titel der Broschüre behauptet, doch mit purer Frechheit ist es schon gar nicht getan. Frechheit und ehrliche Empörung schließen sich gegenseitig aus.

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