© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Im Bann der Dolchstoßlegende
„Sendboten des Feindes“: Ein neuer Versuch des Historikers Rainer Sammet, den Holocaust zu historisieren
Eike Niemann

Warum kam es zwischen 1941 und 1944 zur Vernichtung der Juden Europas?“ Eine zeithistorische Urfrage, auf die auch in den Papiergebirgen, die in den letzten sechzig Jahren zu diesem Thema aufgehäuft wurden, keine schlüssige Antwort zu finden ist. Der letzte Erklärungsversuch, der allgemeine Aufmerksamkeit erregte, Götz Alys „materialistische“ Deutung eines Massen-Raubmordes an den Juden, der den Deutschen ökonomische Vorteile bescherte, überzeugte schon wegen der unzuverlässigen Statistiken nicht.

Unbefriedigend blieben auch Ansätze wie die von Philippe Burrin und Arno J. Mayer, den Judenmord mit dem Kriegsgeschehen im Osten zu verknüpfen. Demnach ermunterten die ersten großen Siege, die im Sommer 1941 gegen Stalins Armeen erfochten wurden, zur „Endlösung“ im Rücken der Front. Andererseits soll gerade die erste Niederlage im Winter 1941 vor Moskau, sowie der zeitgleiche Kriegseintritt der USA Adolf Hitlers Entscheidung ausgelöst haben, „wenigstens“ den Krieg gegen das „internationale Judentum“ gewinnen zu wollen. Doch wer das „Unternehmen Barbarossa“ und den Holocaust parallelisiert, operiert auf dürftiger Quellenbasis. Das gilt auch für die Vertreter der These, das gewaltsame Vorgehen gegen die sowjetischen Juden sei eine Antwort auf die von Stalin im August 1941 verfügte Deportation der Rußlanddeutschen. Oder für Peter Longerichs vage Verweise auf den begünstigenden „Ausnahmezustand“ und die „Sachzwänge“ des Krieges.

Kaum verwunderlich also, wenn angesichts eines derartig desolaten Forschungsstandes Ideologen vom Schlage Dan Diners im „Historikerstreit“ salopp dekretierten, der Holocaust überstiege die menschliche Vorstellungskraft. So schufen sie „Auschwitz als schwarzen Kasten des Verstehens“ und machten ihn zum Ausgangspunkt ihrer ersatzreligiösen Mythisierung des Geschehens. Diesen Traumtänzern um das „goldene Kalb ‘Unerklärbarkeit’“ (Egon Flaig, FAZ vom 13. Juli) ist es bis heute ein leichtes, jede Historisierung des vermeintlich „Singulären“ als „Relativierung“ und „Apologetik“ zu denunzieren.

Diesem Verdacht muß sich daher zwangsläufig auch der nicht zur etablierten Historikerzunft zählende, 2003 über die „Dolchstoßlegende“ promovierte Rainer Sammet aussetzen. In den betulichen Historischen Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft (23-2010) will er mit seiner Studie über den „Judenmord als Mittel der Kriegführung“ gut aufklärerisch Licht in Diners „black box“ bringen. Seine zentrale Behauptung lautet: Die den Juden nicht allein im frühen NS-Schrifttum aufgebürdete Verantwortung für den Zusammenbruch des kaiserlichen Heeres, die Revolution vom November 1918 und das Versailler Friedensdiktat bestimmte mit Kriegsausbruch 1939 ihre Wahrnehmung als „Sendboten des Feindes“ (Joseph Goebbels), die um der kriegsentscheidenden nationalen Geschlossenheit willen aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschieden werden mußten. Um des „Endsiegs“ willen schien diese Maßnahme durchaus sinnvoll, rational begründbar und lohnte den Einsatz wertvoller Ressourcen. Bis 1941 war mit Eliminierung allerdings gemeint: Auswanderung oder Abschiebung ins einst polnische Territorium des Generalgouvernements.

Eine Radikalisierung der Judenpolitik hin zur physischen Auslöschung trat erst mit Beginn des Rußlandfeldzuges ein. Weil im Ringen mit der Sowjetunion, wie im Vorfeld der „Kommissarbefehl“ dokumentiere, das alte Feindbild von 1918/19, der „jüdische Bolschewismus“, durch die Erfahrungen im „Paradies der Arbeiter und Bauern“ mächtig belebt und bestätigt worden sei.

Wie Johannes Hürter und das Gros jüngerer Militärhistoriker weicht Sammet an dieser wichtigsten Stelle seiner Argumentation jedoch den Fakten dadurch aus, daß er ein Feindbild ohne Feinde unterstellt. Die angeblich nur propagandistisch dämonisierten „jüdischen Kommissare“ in der Roten Armee, so urteilt der von Hürter beratene Felix Römer, seien ein Phantasiegebilde von nationalsozialistischen Organisationen und Wehrmacht gewesen. Obwohl Römer zugesteht, die Fronttruppe habe diese Kommissare als „Korsettstangen“ des sowjetischen Widerstands wahrgenommen.

Und auch Sammet bringt das Kunststück fertig, zugleich den für die Truppe unzweifelhaften „tatsächlichen Zusammenhang“ zwischen der Anwesenheit von Juden und Partisanenaktivität im rückwärtigen Heeresgebiet zu betonen und im selben Atemzug eilfertig zu versichern, aus „heutiger Sicht“ sei es „absurd“, in Juden eine „Gefahr für Deutschland und seine Wehrmacht“ zu erkennen.

Gerade weil er selbst insistiert, wie „ernst“ eine solche „Gefahr“ seit 1918 genommen wurde, wie verbreitet diese Vorstellung unter Hitlers Heerführern, bei Offizieren und Mannschaften war, verbietet sich aber gerade ihre ahistorische Einschrumpfung zur „Absurdität“. Zitiert Sammet doch ausgiebig die Memoiren der Manstein, Heinrici und vieler anderer , die lange nach 1945 mit Genugtuung bekundeten, daß ihnen die ab 1917 zugemutete „innere Spaltung und Zersetzung“ von 1939 an erspart geblieben sei. Bei einem so tief verwurzelten, omnipräsenten, schließlich die Politik und Kriegführung einer Großmacht prägenden Generationserlebnis, das Sammet so anschaulich rekonstruiert, ist es doch offenbar ganz abwegig, von einer abstrusen idée fixe, einer Wahnidee ohne realen Bezug auszugehen.

Sammet glaubt an solche massenwirksame Paranoia aber deshalb, weil er schon den realen Kern der ursprünglichen Bedrohungsszenarien von 1918/19 mißachtet: die starke jüdische Präsenz bei den bolschewistischen „Machtergreifungen“ in Sankt Petersburg, Budapest und München, bei dem von zahllosen Greueln begleiteten Zugriff der Roten Armee auf das Baltikum. Solche Ignoranz mag seiner Furcht entsprungen sein, in Ernst Noltes Fahrwasser zu segeln und damit nach der verqueren Logik des Mystagogen Dan Diner als „Apologet“ dazustehen. Manchmal erfordert Wissenschaft eben Mut. Was in der Konsequenz von Sammets so vielversprechender Rekontextualisierung eines „Menschheitsverbrechens“ bedeutet hätte, eine historische Freund-Feind-Konstellation, die die „damaligen Verantwortlichen bewegt hat“, nicht ins psychiatrisch „Absurde“ abzuschieben und zu banalisieren.

 www.ranke-gesellschaft.de

Foto: Festnahme sowjetischer Juden Ende Juni 1941 durch deutsche Truppen: Kommissare als Korsettstangen

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