© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Konzepte gegen die Welt der Unordnung
Harald Seuberts Analyse der gesellschaftlichen Ordnung im 21. Jahrhundert / Warnungen vor der Diktatur des Relativismus
Klaus Hornung

Der Titel dieses Buches des Erlanger Philosophen und Ideenhistorikers bringt die Weite und die Intensität der darin vorgetragenen Gedanken nur unzureichend zum Ausdruck. Es handelt sich um eine eingehende Diagnose unserer Gegenwartslage, der europäisch-atlantischen, „westlichen“ Welt.

Die anschließenden „Orientierungen“ dringen in die „Tiefendimension“ dieser Lage und Ursachen vor. Die jüngste globale Finanz- und Wirtschaftskrise ist mit ihren ökonomischen Ursachen wie dem US-Leistungsbilanzdefizit, der westlichen Niedrigzinspolitik oder der Verzahnung der amerikanischen und chinesischen Finanzmärkte nur die Widerspiegelung eigentlicher Ursachen, die der Autor in den Irrtümern und Verirrungen der ethoslos gewordenen globalisierten „Spätmoderne“ unserer Tage diagnostiziert. Seubert vermag diesen Krisenzyklus nicht nur ökonomisch-technisch zu erklären (so wichtig auch der Aspekt ist), sondern er kommt um die Feststellung nicht herum, daß diese pathologischen Prozesse letztlich ihre Ursachen in sittlichem Versagen finden. Nicht anders als pathologisch muß etwa der Versuch erscheinen, das Wirtschaftsystem auf Schuldentürmen zu begründen, mit den entsprechenden Folgen für die anderen krisengeschüttelten Teilsysteme, die Arbeitsmärkte, die sozialen Sicherungs- und die Gesundheitssysteme und nicht zuletzt für die politischen Ordnungen, die man mit gewaltigen Bürokratien und mit Methoden des Social Engineering zu steuern versucht.

Diese labile Struktur unserer spätmodernen westlichen Gesellschaft, so führt Seubert den Gedankengang fort, endet mit einiger Konsequenz in einer „Welt in Unordnung“, in der wir heute leben. Kaum zwanzig Jahre sind es her, als die Welt nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks noch einigermaßen stabil zu sein schien mit den Vereinigten Staaten als Zentralmacht und „Weltpolizist“. Inzwischen ist das amerikanische Imperium, beginnend im Irak und in Afghanistan, weltweit an seine Grenzen gestoßen, sind mit China neue globale Akteure „auf Augenhöhe“ mit dem Westen aufgetreten, versucht etwa die islamische Welt, teils mit terroristischen Mitteln, teils mit ernstzunehmender religiös-kultureller Durchschlagskraft sich gegenüber dem krisengeschüttelten Westen internationale Geltung zu verschaffen.

Der Autor gehört zu jenen Analytikern, die von einem Wiedereintritt der Religionen in die Welt des 21. Jahrhunderts ausgehen. Und deshalb sieht er die westliche Welt vor eine geschichtliche Entscheidung gestellt, vor ihren „Rubikon“. Es handelt sich um die Entscheidung, entweder in der heute vorherrschenden Orientierungs- und Bindungslosigkeit zu versinken, an dem selbstdestruktiven Relativismus unserer Gegenwart zugrunde zu gehen, durch seine als „Freiheit“ deklarierte Auszehrung des geschichtlichen Erbes als Akteur der Weltgeschichte auszuscheiden oder durch die Besinnung auf dieses Erbe Fortdauer in der geschichtlichen Welt zu sichern.

Seubert teilt den Aufruf des deutsch-jüdischen Philosophen Leo Strauss, wieder mit Sorgfalt und Enthusiasmus die „großen Bücher“ zu lesen, sich der Aufgabe zu unterziehen, sich nicht nur mit den gewaltigen israelischen Propheten zu befassen, sondern sich auch des großen europäischen Erbes von Platon und Aristoteles über Augustinus und Thomas von Aquin bis Hobbes, Kant, Tocqueville und Hegel wieder zu versichern und damit dem spätmodernen Säkularismus und seiner einseitigen Rationalität entgegenzutreten, jene Pathologien in Ökonomie, Kultur und Politik zu durchschauen, deren Zeugen und Opfer wir in der Gegenwart sind.

Es geht Seubert nicht um christlichen Fundamentalismus, wie man ihm voreilig vorwerfen mag, sondern um die Wiederentdeckung der fruchtbaren theologischen und philosophischen Dialektik von Religion und Vernunft, Kern des alteuropäischen Ethos, das er beschwört, eine Wegweisung, die heute etwa Papst Benedikt XVI. und der Philosoph Jürgen Habermas gemeinsam vertreten. Es geht um den „Gegenhalt“ (Seubert), um die Verirrungen und Pathologien unserer Spätmoderne erkennen und überwinden zu können. Es ist zugleich die Besinnung auf die christliche Identität Europas, ohne die – wie der atheistische Philosoph Marcello Pera im Gespräch mit Benedikt XVI. gesagt hat – Europa an der Selbstdestruktivität seiner heutigen „Diktatur des Relativismus“ zugrunde gehen muß.

Harald Seubert:  Jenseits von Sozialismus und Liberalismus – Ethik und Politik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Resch Verlag, Gräfelfing 2011, broschiert, 256 Seiten, 19,90 Euro

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