© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Der Flaneur
Auf der Autobahn
Josef Gottfried

Die Dämmerung hat ihren Zenit bereits überschritten. Sie ist kein diffuses Licht mehr, sondern fast schon Nacht. Kein Autofahrer kann es sich jetzt noch erlauben, das Einschalten der Scheinwerfer hinauszuzögern. Ich drehe den Schalter zwei Stufen nach links, Abblendlicht. A38 bei Markkleeberg.

Die Umrisse eines riesigen Tagebaubaggers lenken mich von den Rücklichtern der vor mir fahrenden Fahrzeuge ab – unfaßbar, daß diese Tonnen von Stahl beweglich sind. Am Horizont zwei Kühltürme. Das Radio läuft leise, die Bässe eines der neuesten Lieder klopfen in den Lautsprechern.

Neben mir meine Frau, sie liest, markiert wichtige Stellen. Wir sind schon einige Stunden unterwegs, sie nippt an ihrem Kaffee, der mittlerweile kalt sein muß. Sie hat den Sitz ganz nach hinten geschoben, die Lehne schräg gestellt, ist auf der Sitzfläche weit nach vorn gerutscht und hat ihren linken Fuß auf das Armaturenbrett gelegt. Ohne den Blick von ihrem Buch zu nehmen, berührt sie liebevoll meinen rechten Oberschenkel.

Plötzlich schaut sie zu mir rüber, setzt sich aufrecht hin. „Weißt du, was du morgen auf keinen Fall vergessen darfst?“ fragt sie. Damit reißt sie mich jäh aus meinen Träumereien, die man bei 120 Stundenkilometern auf einer beinahe freien Autobahn so hat. Sie zählt mir einige Dinge auf, gibt mir Aufgaben und erklärt, was davon besonders wichtig sei.

In mir keimt sofort der Impuls, rituell zu widersprechen, meine Autonomie zu bewahren und ihr klarzumachen, daß ich meinen Tag gefälligst selbst organisiere. Ich schaue kurz nach rechts zu ihr rüber. Ihr Blick ist nicht aggressiv, nicht herablassend, nicht gemein, nichts von alledem. Widerspruch läßt er aber auch nicht zu. Also sage ich „ja“ und reduziere die Geschwindigkeit um ein paar Stundenkilometer. So kann ich die Ankunft etwas herauszögern und dieses Glück um ein paar Minuten verlängern.

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