© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Politik paradox
Statistik: Deutschland ist der kinderärmste Staat in Europa
Birgit Kelle

Die deutsche Familienpolitik steht vor einem Scherbenhaufen. Betrachtet man die neueste Studie „Wie leben Kinder in Deutschland?“ des Statistischen Bundesamtes, kann man mit Fug und Recht behaupten, daß der derzeitige Kurs in der Familienpolitik nicht einmal ansatzweise die Erfolge gebracht hat, die man sich erhofft hatte. Ganz im Gegenteil.

Es klingt nahezu weltfremd, wenn das Familienministerium die aktuellen Zahlen mit den Worten kommentiert, der Rückgang der Kinderzahl in Deutschland zeige, „wie wichtig eine nachhaltige Familienpolitik“ sei und daß die Bundesregierung mit ihren Maßnahmen auf einem guten Weg sei. Sind wir also deswegen Schlußlicht bei den Kinderzahlen in Europa, weil wir auf einem guten Weg sind? Und was ist eigentlich „nachhaltige“ Familienpolitik? Eine, bei der Familien besonders nachhaltig, also lange zusammenbleiben? Eine, die uns möglichst viele Familien beschert – wobei noch zu klären wäre, was genau eine Familie im Sinne von Artikel 6 des Grundgesetzes ist? Oder eine Politik, die Familien mit möglichst vielen Kindern hervorbringt – dann wären wir jedenfalls politisch komplett gescheitert. Nirgendwo in Europa leben prozentual weniger Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als bei uns. Deutschland ist Schlußlicht der Tabelle mit einem Anteil von nur 16,5 Prozent. Im Vergleich: In der Türkei beträgt der Anteil exorbitante 31,2 Prozent. In Frankreich sind es 22 Prozent und auch in Großbritannien, Norwegen, Schweden oder den Niederlanden sind es über 20 Prozent.

Die Geburtenrate in Deutschland ist trotz aller Bemühungen auf einem niedrigen Niveau und ist in den vergangenen zehn  Jahren sogar von 1,38 auf 1,36 Kinder gesunken, die eine deutsche Frau statistisch in ihrem Leben zur Welt bringt. Dabei hatte man uns doch prophezeit, daß alles besser, schöner und kinderreicher werden soll. Daß wir nur mehr Betreuungsplätze für Kinder in staatlichen Einrichtungen schaffen müßten, und schon würde sich der Babyboom einstellen. Nun, es kam wohl anders. Vielleicht auch deswegen, weil wir zwar gerne nach Skandinavien und Frankreich linsen, wenn es um die Betreuungsangebote geht, aber den Rest gerne ignorieren. Wie zum Beispiel die Tatsache, daß Familien in Frankreich ab dem dritten Kind steuerfrei sind, oder daß es in Skandinavien schon sehr lange ein Betreuungsgeld gibt für Familien, das frei eingesetzt werden kann, während wir uns noch an Begriffen wie „Herdprämie“ abarbeiten und den Familien lieber mißtrauisch mit „Bildungsgutscheinen“ begegnen.

Der Rückschluß: „Mehr Kinderbetreuung und dadurch automatisch mehr Kinder“, funktioniert alleine nicht. Besonders dramatisch ist dies im Ost-West-Vergleich sichtbar. Denn die Betreuungsquote in den neuen Bundesländern ist riesig groß, die Geburtenrate jedoch noch weiter im Keller als in den alten Bundesländern. Hinzu kommt, daß im Osten immer weniger klassische Vater-Mutter-Kind-Familien wohnen, dafür mehr Alleinerziehende und mehr unverheiratete Paare. Im Westen hingegen sind deutlich mehr Kinder zu verzeichnen und zwar in der Regel bei verheirateten Eltern und dort, wo es wenig Betreuungsangebote gibt. Nachhaltig wäre also, wenn wir fördern würden, daß die Menschen heiraten und sich selbst um die Kinder kümmern. Das ist nicht Ideologie, sondern Statistik.

Ein Grund für die Misere der Geburtenrate ist, daß die meisten Frauen erst jenseits der 30 Jahre damit beginnen, ihre statistischen 1,38 Kinder zu bekommen. Damit bleibt nur wenig Zeit übrig für ein zweites oder gar mehr Kinder. Im Jahr 1970 fing man schon mit 24 Jahren an – da war noch Potential für Geschwister. Anstatt aber das frühe Kinderkriegen zu fördern, bezahlen wir jetzt aus den öffentlichen Krankenkassen künstliche Befruchtungen – so wie wir gleichzeitig allein in den vergangenen zehn Jahren 2,5 Millionen Kinder mit staatlichen Geldern haben abtreiben lassen. Eine paradoxe Familienpolitik, die einerseits Kinder will, andererseits deren Verhinderung finanziert.

Konsequenterweise paßt das Kinderkriegen jenseits der 30 jedoch wunderbar in die staatliche Erziehungsgeld-Politik. Lohnt sich dies doch gerade für die gutverdienenden Paare mit etabliertem Beruf, die mal eine einjährige Pause für den Nachwuchs einlegen. Sie bekommen in der Regel den Höchstsatz von 1.800 Euro ausgezahlt, während die Bäckereiverkäuferin in den Zwanzigern mit 300 Euro Mindestsatz abgespeist wird. Für mehr Kinder müßte es genau andersherum sein. Die jungen Frauen und Familien ohne Sicherheit und festen Job brauchen die hohen Summen, die Akademiker jenseits der 30 können vermutlich ganz auf das Geld verzichten.

Bleibt zum Schluß noch die sagenumwobene Kinderfreundlichkeit unserer Gesellschaft: Was davon noch existiert, wird systematisch totgeredet und -geklagt. Wir hören und lesen nur noch von überforderten Familien, vernachlässigten Kindern, von Rentnern, die gegen Kindergartenlärm und Nachbarn, die gegen Kinderwagen im Hausflur klagen, von Müttern, die mit schreiendem Kind aus dem Bus geworfen werden. Auch das ist Deutschland.

 

Birgit Kelle ist Journalistin und Vorsitzende des Vereins Frau 2000plus sowie Mitglied der New Women for Europe.

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