© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Schatten über dem Land der aufgehenden Sonne
Wirtschaftspolitik: Ein Atomausstieg ist in Japan vorerst nicht in Sicht / Existentielle Abhängigkeit von Primärenergieimporten
Albrecht Rothacher

Das Tohoku-Erdbeben und die anschließende Tsunami-Welle kostete nicht nur mehr als 15.500 Menschenleben, sondern es löste auch die Atomkatastrophe von Fukushima aus. Etwa 80 Prozent der Japaner lehnen laut Umfragen inzwischen die Kernenergie ab. Premier Naoto Kan verspricht daher den Atomausstieg.

Einen Zeitplan nannte er aber nicht. Und sein Regierungssprecher Yukio Edano ruderte angesichts der ökonomischen Ausstiegskosten und der energetischen Realitäten zurück: Die Vision Kans von der atomenergiefreien Gesellschaft sei dessen persönlicher Wunschtraum, nicht aber die offizielle Regierungslinie. Zu stark ist mit etwa 30 Prozent die Abhängigkeit des japanischen Stromverbrauchs von der Kernkraft. Aus dem Ausland zukaufen – wie in Deutschland Praxis – ist für die Inselnation Utopie.

Im Juli waren wegen der Erdbebenschäden und der vorsorglichen „Streßtests“ nur noch 16 von 54 Atomkraftwerken in Betrieb. Die Angst ist groß, weitere Energieverknappungen (im schwül-heißen Sommer laufen Klimaanlagen wie in den USA auf Hochtouren) könnten die gerade erst wieder voll angelaufene Industrieproduktion (sie erlitt unvorstellbare Milliardenschäden) wieder gefährden und so ins Ausland vertreiben. Daher ist die japanische Öffentlichkeit zwischen ihrer grundsätzlichen Nuklearablehnung – die von den US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki begründet wurde – und der energetischen Not hin- und hergerissen.

Kan, dessen Ministerpräsidentenamt nach der Aufkündigung der Gefolgschaft der zwei größten Fraktionen seiner Demokratischen Partei (DPJ) ohnehin wackelt, plant das Atomausstiegsthema als möglichen Befreiungsschlag. Sein neues politisches Vorbild, Junichi Koizumi, hatte 2005 als LDP-Premier auch alles auf eine Karte gesetzt. Er hatte mit der eigentlich unpopulären Post-Privatisierung gegen den Willen des Establishments seiner Liberaldemokraten Neuwahlen angesetzt und diese kraft seines Charismas erdrutschartig gewonnen.

Allerdings ist Kans Popularität im Keller und der Bedarf der Japaner an politischen Tricks gedeckt. Der Wiederaufbau der zerstörten Küstenstädte im Nordosten kommt nur mühsam in Gang. Etwa 100.000 Obdachlose leben noch in Notunterkünften. Fünf Monate nach der Fukushima-Katastrophe kämpfen Arbeiter und Ingenieure weiter um die Stabilisierung der Lage im AKW. Eigentlich hatten die Energiepläne vorgesehen, durch den jährlichen Neubau von zwei bis drei AKWs den Anteil der Kernenergie an der Primärenergie bis 2050 auf 30 bis 40 Prozent und an der Stromerzeugung auf über 50 Prozent zu steigern. Damit sollte die Abhängigkeit von den Importgütern Öl, Gas und Kohle, die derzeit 82 Prozent der Primärenergiequellen ausmachen, vermindert werden.

Japans eigene Kohlevorkommen sind seit den siebziger Jahren praktisch erschöpft. Das Potential der Wasserkraft (drei Prozent) ist mit 1.600 Talsperren wohl ausgeschöpft. Da bleibt nur das Potential der Sonnenenergie (Solarpanele blinken schon von vielen Vorstadtdächern) und der Erdwärme. Ihre Nutzung macht bislang erst 3,5 Prozent des Primärenergiebedarfes aus. Atomstrom war der Weg zur erhöhten Energieautarkie, die Beschaffung von Uran erschien im Vergleich zu Öl und Gas unproblematischer. Japan hoffte auch auf die Nutzung seines technologischen Vorsprungs für AKW-Exporte, will doch der energiehungrige Nachbar China weitere 30 bis 40 AKWs neu bauen.

Doch wurden seit dem 11. März immer mehr Einzelheiten über das lukrative Zusammenspiel von Atomindustrie, den regionalen Strommonopolisten, der Politik und den Ministerien bekannt. So waren die großen E-Werke stets Großspender für die jahrzehntelang regierende LDP. Ihre Gewerkschaften unterstützen die derzeit regierende DPJ. Beide Parteien sind weiter mehrheitlich auf Atomkurs. Offeriert doch die Atomindustrie zahlreiche gutbezahlte Posten für pensionierte Beamte des aufsichtsführenden Industrieministeriums und sponsert die Nachrichtensendungen der großen Privatsender.

Nun stellte es sich heraus, daß die vielen Bürokraten in den Führungsetagen der Kernkraftbetreiber wie Tepco (größter Energiekonzern Japans und Fukushima-Eigner) und in den staatlichen Überwachungsbehörden schlicht nicht den technischen Sachverstand mitbrachten, um frühere Warnungen vor den störanfälligen Dieselaggregaten ernst zu nehmen und sich im Krisenmanagement zu bewähren. Sie übten sich statt dessen, wie bei früheren Störfällen auch, in der Desinformation, im Abwiegeln und Abtauchen (siehe Seite 22).

Dabei hat Japan das volle Atomprogramm in Betrieb: Um von Uranimporten unabhängiger zu werden, wurden in Monju ein „Schneller Brüter“, in Tokaimura nördlich Tokio sowie in Aomori und in Rokkasho an der Nordspitze Hokkaidos Uran-Aufbereitungsanlagen gebaut. Angesichts der Vielzahl an Reaktoren unterschiedlichen Typs und Alters und wenig erprobter Wiederaufbereitungstechnologien blieben Unfälle nicht aus. Und bereits im Sommer 2003 fiel die Hälfte der Stromerzeugung für Tokio (einschließlich aller Klimaanlagen und Ministeriumsbeleuchtungen) aus, nachdem Tepco seine 17 AKWs zur Überprüfung vom Netz nehmen mußte.

Wie im Westen werden auch in Japan neue Baugenehmigungen von langen Einspruchsverfahren – unter anderem wegen angeblich fehlender Erdbebensicherheit – und langwierigen Rechtshändeln verzögert und verteuert. Allerdings hat der Oberste Gerichtshof bisher noch immer alle Baustoppentscheide der Obergerichte aufgehoben. Eine Kehrtwende und ein beschleunigter Atomausstieg à la Angela Merkel ist daher bis auf weiteres in Japan nicht in Sicht.

Foto: Leuchtreklame in Tokio: Ohne Atomstrom dürfte in der Metropolenregion bald das Licht ausgehen

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