© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Eine erste Umarmung nach 48 Jahren
Auf der Suche nach dem russischen Vater: Ulrich Schachts autobiographisches Zeugnis „Vereister Sommer“
Jörg-Bernhard Bilke

Der aus der Hafenstadt Wismar in Mecklenburg stammende Schriftsteller Ulrich Schacht, 1976 aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden freigekauft und nach Hamburg ausgebürgert, wurde zunächst mit den beiden Gedichtbänden „Traumgefahr“ (1981) und „Scherbenspur“ (1983) bekannt, ehe er sich mit den sechs Erzählungen „Brandenburgische Konzerte“ (1989) der Prosa zuwandte. Öffentliches Aufsehen erregten aber die „Hohenecker Protokolle“ (1984), worin er die Schicksale von zehn weiblichen Häftlingen im Zuchthaus zu Stollberg im Erzgebirge nacherzählte.

Dort in Stollberg ist Ulrich Schacht, der am 9. März seinen sechzigsten Geburtstag feiern konnte (JF 10/11), auch geboren. Nach Bäckerlehre und Abitur studierte er in Schwerin, Rostock und Wismar Religionspädagogik und Theologie, wurde 1973 wegen kritischer Gedichte, die als „staatsfeindliche Hetze“ eingestuft wurden, zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. In Bonn und Hamburg arbeitete er als Redakteur bei Welt und Welt am Sonntag. 1998 wanderte er nach Schweden aus, weil das 1990 wiedervereinigte Deutschland für ihn nicht mehr die „Republik des Grundgesetzes“ war.

Seine 1927 in Wismar geborene Mutter, Wendelgard Schacht, die mit einem jungen Sowjetoffizier befreundet gewesen war und mit ihm hatte fliehen wollen, mußte die über sie verhängte Haftstrafe von zehn Jahren nicht vollends absitzen, sondern wurde, im Vorfeld der Berliner Außenministerkonferenz vom 25. Januar bis 18. Februar 1954, entlassen. Diese biographischen Daten sind freilich nur das Gerüst für eine unerhört bilderreich beschriebene Suche, die der Autor nach seinem in Rußland verschollenen Vater unternommen hat, den er noch nie gesehen hat, den er nur aus Erzählungen seiner Mutter kennt, den er aber ein Leben lang vermißt hat und den er schließlich, als er selbst schon 48 Jahre alt ist, im Dorf Schalikowo, zwischen Moskau und Smolensk gelegen, findet. Es ist der 4. April 1999, als die Geschichte mit diesen poetischen Sätzen anhebt: „Ein Mann geht durch den Schnee. Der Schnee unter seinen Füßen bricht, splittert, knirscht. Seit Monaten liegt das eisige Weiß über dem Land, zusammengepreßt, verharscht. Jeder Schritt ist zu hören, es dröhnt in seinen Ohren, als stapfe ein mächtiges Wesen durch eine totenstille Winterlandschaft.“

Dieser Mann geht zögernden Schritts über die winterlich vereiste und von Birken umsäumte Dorfstraße auf einen anderen Mann zu, der vor seiner Datsche auf ihn wartet und der sein Vater ist.

Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Wladimir Jegorowitsch Feodotow, geboren 1925, als Leutnant der Roten Armee in Wismar stationiert war, als er bei einem Tanzvergnügen 1949 Wendelgard Schacht kennenlernte, die im Sommer 1950 von ihm schwanger wurde. Am 14./15. August 1950 wurde diese junge, kaum ausgelebte Liebe jäh zerstört, als zunächst Wladimir und am Tag darauf Wendelgard vom sowjetrussischen Geheimdienst verhaftet wurde.

Vier Wochen später wurde sie zur Vernehmung nach Magdeburg überstellt, wo am 25. Oktober eine Gegenüberstellung mit ihrem russischen Geliebten erfolgte, wobei sie zugab, mit ihm nach Westdeutschland hätte fliehen zu wollen. Merkwürdigerweise trug er noch immer seine Uniform mit allen Rangabzeichen. Am 18. November 1950 wurde sie vom Kriegsgericht, einem Sowjetischen Militärtribunal, ohne Rechtsbeistand und Entlastungszeugen wegen „Landeshochverrats“ zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Sie wurde aber nicht, wie sie befürchtet hatte, in die Sowjetunion verschleppt, sondern kam ins Frauenzuchthaus Hoheneck. Hier brachte sie am 9. März 1951 ihren Sohn Ulrich zur Welt, der ihr am 6. Juni weggenommen und in ein Kinderheim der „Volkspolizei“ nach Leipzig verbracht wurde.

Der Tag, an dem Ulrich Schacht mit seinem russischen Halbbruder Slavik durch Eis und Schnee auf seinen Vater zugeht, eben der 4. April 1999, ist ein magisches Datum, das wie ein roter Faden durch den autobiographischen Text läuft. Von hier aus werden die drei Handlungsstränge aufgefächert und miteinander verschränkt: Das Leben des Vaters, der damals, am 26. Oktober 1950, ins sibirische Tschita strafversetzt wurde, später heiratete und zwei weitere Söhne zeugte; das Schicksal der Mutter, die im Januar 1954 aus Hoheneck entlassen wurde, Arbeit fand als Sekretärin in der Wismarer Matthias-Thesen-Werft und am 15. Dezember 1979 nach Hamburg übersiedelte, wo sie erst vor wenigen Wochen verstorben ist; und die Lebensgeschichte des Dissidenten und unerbittlichen Demokraten Ulrich Schacht selbst.

Auch der 22. Januar 1954, der Entlassungstag der Mutter, ist ein solches Datum, das für die Textstruktur wichtig ist. Da fuhr sie von Chemnitz, wie Karl-Marx-Stadt damals hieß, über Leipzig und Magdeburg nach Wismar, wo sie kurz nach 18 Uhr ankam. Im inneren Monolog während der langen Bahnfahrt der plötzlich Freigelassenen, die nichts verbrochen hatte, bis sie von Mutter und Schwestern empfangen wird, erfährt der Leser Unglaubliches aus DDR-Zuchthäusern. Dieser Textstrang wirkt unerhört verdichtet, weil die Erinnerung der Mutter noch nach Jahrzehnten klar und unwiderlegbar ist und weil der Sohn unablässig nachfragte.

Es gibt in diesem Buch mehrere Passagen, die den Leser sehr anrühren. Eine davon ist das Schicksal der drei Jahre älteren Schwester Dolores (1948–1976), die vor ihrem Krebstod dem Bruder noch einen Brief ins Zuchthaus schrieb; die zweite ist die Begegnung mit Heinrich Böll (1917–1985) auf dem Schriftstellertreffen 1984 in Saarbrücken, wo linke Leugner kommunistischer Verbrechen die Szene beherrschten und wo der Kölner Schriftsteller schützend seinen Arm auf Ulrich Schachts Schulter legte; und die dritte ist die nächtliche Umrundung der „Lubjanka“, wo bis 1989 Tausende von „Staatsfeinden“ eingekerkert waren, im Moskauer Zentrum, die der Verfasser mitten in der Nacht unternahm: Ein archaisches Ritual, um das Böse zu bannen!

Erstaunt erfährt man, daß für ihn jeden Sonntag in zwei Wismarer Kirchen von mutigen Pfarrern Fürbitten gesprochen wurden, „unserem gefangenen Bruder Ulrich Schacht“ zu helfen. Als krudes Gegenstück dazu wirkt die Begegnung mit seinem Richter 17 Jahre nach der Verurteilung in Schwerin. Das Gespräch fand in einer Kleingartenanlage statt und wurde per Richtmikrofon mitgeschnitten: Die Druckfassung von 18 Seiten zeigt die vor Angst schlotternde Gestalt eines ehemals sozialistischen „Rechtspflegers“.

 

Dr. Jörg Bernhard Bilke war von 1983 bis 2000 Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn

Ulrich Schacht: Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater. Aufbau-Verlag, Berlin 2011, gebunden, 221 Seiten,19,95 Euro

Foto: Ulrich Schacht (r.) mit seinem Vater Wladimir Jegorowitsch Feodotow: Jahrzehntelang kannte er ihn nur aus Erzählungen der Mutter

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