© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Fukushima ist nicht Tschernobyl
Atomkatastrophe: Japaner im Kampf gegen die Strahlenbelastung / Jod- und Cäsiumbelastung liegt bei zehn bis zwanzig Prozent der Tschernobyl-Menge
Björn Hauptfleisch

Die schlimmsten Prophezeiungen erfüllten sich bislang nicht. Trotz Nachbeben und Berichten über eine Verschärfung der Lage am AKW Fukushima-Daiichi wurde im Juli in Japan verkündet, daß die erste Stufe des Stabilisierungsplans erreicht sei. Seither kühlt ein geschlossener Wasserkreislauf die beschädigten Reaktoren. Weiterhin werden Trümmer geräumt und in Container verpackt. Um die Ausbreitung von radioaktiven Partikeln in Stäuben und Dämpfen zu verhindern, wird eine luftdichte Folie auf einem Gerüst über die Reaktoren gespannt. Ein Betonsarkophag wie in Tschernobyl scheint momentan unnötig, da die Strahlung aus den Reaktorkernen durch die Betonwände abgeschirmt wird.

Nach offiziellen Modellrechnungen der japanischen Atombehörde NISA entwichen aus den Reaktoren allerdings erhebliche Mengen radioaktiver Substanzen. Ihre Radioaktivität – in der Einheit Becquerel gemessen – überstieg sogar den Wert von Tschernobyl. Trotzdem werden die Schäden aus mehreren Gründen wahrscheinlich geringer als in Tschernobyl sein. Erstens wurden in Fukushima die Anwohner einer 20-Kilometer-Zone vorsorglich evakuiert, bevor es zu der massiven radioaktiven Freisetzung am 15. März (vier Tage nach dem Beben) kam. In Tschernobyl begann die Evakuierung erst einen Tag nach der Zerstörung des Reaktorgebäudes.

Zweitens schmolzen in Fukushima zwar die Reaktorkerne, aber sie konnten danach wieder gekühlt werden. So schlugen sich die in den Kernen verdampften Stoffe zum Teil innerhalb der Sicherheitsbehälter nieder. Darum wurden nur gasförmige und niedrigsiedende Elemente – allerdings in großer Menge – in die Atmosphäre freigesetzt. Das für den größten Teil der anfänglichen Radioaktivität verantwortliche Edelgas Xenon-133 mit einer Halbwertszeit von fünf Tagen entwich in größeren Mengen als in Tschernobyl, es verflüchtigte sich aber in der Atmosphäre. Die Belastung von Boden und Wasser stammt vor allem von Jod (I) und Cäsium (Cs).

Die Menge an emittiertem radioaktiven Jod-131 beträgt etwa zehn Prozent der Tschernobyl-Menge, beim Cäsium sind es zirka 20 Prozent. Alle Elemente mit höherem Siedepunkt wurden nur in Hunderstel- bis Zehntausendstel-Bruchteilen der Tschernobyl-Menge emittiert, darunter das krebserzeugende Spaltprodukt Strontium und das radioaktive Schwermetall Plutonium.

In Fukushima gingen etwa zwei Prozent des dort vorhandenen Jods und Cäsiums verloren. Jod-131 hat nur eine Halbwertszeit von acht Tagen; Cäsium-134 und Cäsium-137 hingegen stellen mit zwei beziehungsweise 30 Jahren Halbwertszeit ein langfristiges Problem dar. Die beiden Cäsium-Isotope wurden in etwa gleicher Menge freigesetzt.

Ein dritter Grund für die im Vergleich zur Ukraine oder Weißrußland 1986 relativ glimpfliche Situation sind die günstigen Winde zum Zeitpunkt der größten radioaktiven Freisetzung. Etwa 80 Prozent der in die Atmosphäre entlassenen 33.000 Billionen Becquerel Cäsium gingen über dem Meer nieder. Zusätzlich strömten mit dem zeitweise unkontrolliert austretenden Kühlwasser Substanzen mit 5.000 Billionen Becquerel ins Meer. Auf das riesige Volumen des Pazifiks von 700 Millionen Kubikkilometern gerechnet, verdünnt sich das Cäsium auf 0,05 Becquerel pro Kubikmeter. Die natürliche, konstant vorhandene Radioaktivität des Meerwassers beträgt dagegen über 10.000 Becquerel pro Kubikmeter, so Jürgen Herrmann vom Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie gegenüber der JF.

Diese Gesamtsicht steht nicht im Widerspruch dazu, daß vor der Küste von Fukushima und damit in relativ flachem Wasser tatsächlich eine erhöhte Radioaktivität festgestellt wurde. In einer 50-Kilometer-Zone um das AKW wurde daher die Fischerei verboten. Permanent durchgeführte Kontrollen außerhalb dieser Zone zeigen, daß einige Fischarten und Meeresfrüchte in der Nähe der Zone noch über dem Grenzwert von 500 Becquerel pro Kilogramm mit Cäsium belastet sind, während das Jod keine Rolle mehr spielt. Betroffen sind unter anderem Grünling, Sandaal und der Ayu-Fisch. Unterschiede zu anderen Arten werden aus den Ernährungs- und Aufenthaltsgewohnheiten erklärt. Die betroffenen Arten sind für das jeweilige Fanggebiet vom Handel ausgeschlossen worden. Fischproben einige hundert Kilometer vor der Küste zeigen aber kaum zusätzliche Radioaktivität.

Ein weiterer Glücksfall war der Verlauf des radioaktiven Niederschlags auf dem Land. Die Zone des intensivsten Fallout zieht sich in einem zehn Kilometer breiten und 50 Kilometer langen Band nach Nordwesten. Es verläuft weitgehend zwischen der dichtbesiedelten Küstenebene östlich und der dichtbesiedelten Hochebene westlich durch ein fast unbesiedeltes, waldbedecktes Hügelland, bevor es bei dem Dorf Iitate endet. Fallout – wenn auch geringerer – wurde jedoch über weiten Teilen der Präfektur Fukushima und darüber hinaus festgestellt.

Dieses Gebiet starker Kontamination unterscheidet sich von den Evakuierungszonen. Ein 20-Kilometer-Radius wurde zwangsgeräumt und gesperrt, die verbliebenen Nutztiere mußten gekeult werden. Dennoch sind inzwischen fast 3.000 Fälle von radioaktiv belastetem Rindfleisch bekanntgeworden. Untersuchungen auf Schlachthöfen in Tokio ergaben, daß die Tiere aus der Umgebung Fukushimas geliefert worden waren.

In einem 30-Kilometer-Radius wurden die Anwohner aufgefordert, freiwillig zu gehen, man verbot, die Reisfelder (die Präfektur Fukushima ist ein Hauptanbaugebiet) zu bepflanzen. Jener Teil des radioaktiven Bandes bei Iitate, welcher über den 20- beziehungsweise 30-Kilometer-Radius hinausragt, wurde zusätzlich geräumt. Es wurde aber nur Ackerbau verboten – die Industrie arbeitet weiter. Dennoch mußte das Gesundheitsministerium im Juli eingestehen, daß auch bei Pflaumen, Spinat, Tee und Milch radioaktive Belastungen festgestellt wurden. Schwangere und junge Eltern sind daher zu Recht stark beunruhigt.

 

Atomunfälle in Japan

Die Atomkatastrophe von Fukushima kam nicht überraschend: Bereits 1997 gab es in der Wiederaufarbeitungsanlage für Nuklearbrennstoffe in Tokaimura nördlich von Tokio einen ersten Unfall. Dutzende Arbeiter wurden verstrahlt, Radioaktivität wurde in die Atmosphäre freigesetzt. 1999 wurde ein Plutonium-Projekt gestoppt, nachdem der Betreiber British Nuclear Fuels zugeben mußte, Daten gefälscht zu haben. Im selben Jahr gab es in Tokaimura einen Großunfall, bei dem mehrere Menschen starben und sogar Hunderte Anwohner einer gefährlichen Strahlenbelastung ausgesetzt wurden. Das japanische Staatsfernsehen NHK sendete daraufhin einen beeindruckenden Dokumentarfilm über den 83tägigen Todeskampf des AKW-Arbeiters Hiroshi Ouchi – doch echte Konsequenzen blieben aus. 2002 kam der Fukushima-Betreiber Tepco erstmals ins Zwielicht, weil er mehrere AKW-Unfälle verschwiegen hatte. 2003 mußte Tecpo seine 17 AKWs wegen Rißbildungen vorübergehend vom Netz nehmen. 2004 starben fünf Arbeiter, die in der Präfektur Fukui strahlenden Dämpfen ausgesetzt waren.

Foto: Defekte Betongrube des Reaktorblocks Nr. 2 im Atomkraftwerk Fukushima: Um die radioaktive Strahlung von bis zu 1.000 Millisievert pro Stunde abzuschirmen, trägt der Arbeiter einen Schutzanzug

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