© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

„Die Welt steht Kopf“
Melanie Phillips gilt als das konservative Enfant terrible Großbritanniens. Die Publizistin hat ihre ganz eigene Deutung der jüngsten Krawalle
Moritz Schwarz

Frau Phillips, warum steht die Welt Kopf?

Phillips: Die Welle der Gewalt und Anarchie in Großbritannien etwa sind das Ergebnis eines rund dreißigjährigen liberalen Experiments, das unsere sozialen Werte gründlich zerstört hat.

Laut „Spiegel“ fragen sich die Briten nun, wie „ihre angeblich auf Fair Play gegründete Gesellschaft so scheitern konnte.“

Phillips: Etwa weil alle, die jahrelang gewarnt haben, daß wir da mit dem Feuer spielen, als rechtsgerichtete Spinner verschrien wurden, die angeblich die Zeit zurückdrehen wollen. Tatsächlich aber war die liberale Intelligenzija des Landes doch wie versessen darauf, Institutionen wie Ehe und Familie, das leistungsorientierte Bildungssystem, das Prinzip der Verbrechensbekämpfung durch Strafe, die nationale Identität und viele andere fundamentale Gesellschaftsprinzipien zu zertrümmern, um unsere Gesellschaft revolutionär zu transformieren.

Ihr neues Buch, „The World Turned Upside Down“, untersucht diese Aushöhlung unserer Gesellschaft durch eine schleichende Umwertung aller Werte.

Phillips: So ist es, und dieses Phänomen erleben wir nicht nur in Großbritannien, sondern in der ganzen westlichen Welt. Dahinter steckt das Prinzip, daß Tatsachen nichts mehr gelten. Zu zahlreichen Themen gibt es nur noch eine quasi erlaubte Sicht der Dinge.

Zum Beispiel?

Phillips: Zum Beispiel zum Multikulturalismus oder zum Thema gesellschaftliche Minderheiten, ebenso aber etwa was die Behauptung eines anthropogenen Treibhauseffekts oder den Krieg im Irak angeht. Zu all dem gibt es eine vorherrschende linke Meinung, die man zu teilen hat. Wenn man allerdings die Fakten, Zahlen, Tatsachen und Belege studiert, stellt man schnell fest, daß sie diese politisch korrekten Standpunkte überhaupt nicht stützen! Unser traditionelles abendländisches Denksystem funktioniert eigentlich so: Man hat einen Befund und zieht daraus die Schlußfolgerung. Wer nun aber dementsprechend Fakten und Zahlen ins Feld führt, wird mit dem Totschlag-Vorwurf, er sei ein Extremist, niedergeschrien. Wenn er Glück hat, kommt er mit dem Verdikt „verwirrter Spinner“ davon. Unser Denksystem ist also auf den Kopf gestellt: Da an erster Stelle das „Ergebnis“ steht, werden die Tatsachen so verdreht, bis sie zu den gewollten Schlußfolgerungen passen. Fazit: Die Welt steht auf dem Kopf.

Was hat das mit den Krawallen in England zu tun?

Phillips: Diese Art zu denken, ersetzt das reale Bild der Welt durch ein Wunschbild. Dadurch hat die Linke zwar die Verbindung zur Realität verloren, dennoch ist es ihr längst gelungen, so gut wie vollständig unsere gesellschaftliche Kultur zu dominieren. Die Krawalle nun, stellen einen Kollaps dieser Ordnung dar. Einer Ordnung, die geprägt ist durch einen intellektuellen Irrationalismus, eine paralysierende Political Correctness, narzißtische Selbstbezogenheit als persönliches Ideal, massenhafte Vaterlosigkeit unserer Jugendlichen in Folge des Zusammenbruchs der Institution Familie, Bildungsmisere, lähmende Abhängigkeit vieler vom Tropf des Wohlfahrtsstaates, die Abkehr vom Prinzip der Bestrafung in der Verbrechensbekämpfung, die krasse Ungerechtigkeit und moralische Umkehrung der „Opfer-Kultur“, den Zusammenbruch der Autorität unseres Justizsystems, den Rückzug unserer Polizei aus den problematischen Stadtvierteln und nicht zuletzt durch das ungebremste Anwachsen anarchistischer und linksextremer Umtriebe.

Nun, das behaupten Sie.

Phillips: Mir scheint es ziemlich offensichtlich, daß die Krawalle auch direkt aus dem Niedergang der öffentlichen Ordnung resultieren, wie wir sie in den letzten zwanzig Jahren immer häufiger erlebt haben, denken Sie etwa an die Demonstrationen gegen die G20-Gipfel oder den Sturm auf die Parteizentrale der britischen Konservativen wegen der Studiengebühren, die wohl auf das Konto organisierter Anarchisten und revolutionärer linker Gruppen geht. Diese sehen in ihrer ideologischen Verblendung das Land kurz vor einem revolutionären Zusammenbruch. Und so entern sie sachbezogene Protestbewegungen und Demonstrationen, um so die staatliche Ordnung schneller zu Fall zu bringen und den Kapitalismus zu überwinden.

Sie haben als Ursache für die Krawalle auch den Multikulturalismus angeklagt. Tatsache ist aber, daß auch viele der Täter Weiße, viele der Opfer Farbige sind.

Phillips: Ja, und dennoch ist all das auch eine Folge des Multikulturalismus – der Doktrin, die besagt, daß man nicht eine Kultur als höherwertig als die andere betrachten kann, weil das „rassistisch“ sei. Tatsächlich aber hat das dazu geführt, daß unsere Kinder nichts mehr lernen über die Nation, der sie angehören, und ihre Kultur. Somit werden sie nicht nur bezüglich ihrer Gesellschaft in Unwissenheit gelassen, sondern verlieren auch den Bezug zu der diese grundierende Kultur. Statt also soziale Bindungen zu ihrer Kultur zu entwickeln, löst die Ideologie des Multikulturalismus diese auf und etabliert statt dessen einen primitiven Kampf aller gegen alle, in dem die stärkste Gruppe schließlich die Schwachen zerstört. Eng verbunden damit ist übrigens die „Opfer-Kultur“, die ich vorhin schon erwähnt habe, gemäß der alle Minderheiten per se als Opfer der Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden. Womit dann jedes soziale Fehlverhalten dieser durch Verweis auf die strukturelle Schuld der Mehrheit entschuldigt ist.

Sie behaupten sogar: Multikulturalismus und liberale Demokratie sind unvereinbar.

Phillips: Dem ist auch so.

In Deutschland gelten sie allgemein als zwei Seiten der gleichen Medaille.

Phillips: Das ist absurd, denn es gibt da ein Paradoxon: Eine liberale Gesellschaft kann in der Tat an sich nicht beanspruchen, daß ihre Werte besser sind als die einer anderen. In einer multikulturellen Gesellschaft kann sie also folglich auch nicht die Dominanz ihrer Werte einfordern. Das aber muß sie tun, um nicht den anderen Kulturen zum Opfer zu fallen. Deshalb ist der Multikulturalismus für eine liberale Gesellschaft eine große Gefahr. Und so fand ich es sehr interessant, daß Ihre Kanzlerin Frau Merkel den Mut hatte, vor einigen Monaten öffentlich festzustellen, daß Multikulti gescheitert sei. Offenbar versteht sie exakt, daß eine Gesellschaft, die an die multikulturelle Doktrin glaubt, der Tod für ein liberal-demokratisches System ist.

In Ihrem vorletzten Buch, „Londonistan“, haben Sie diesen Prozeß der Auflösung beschrieben.

Phillips: Eines muß klar sein: Auch Moslems sind bei uns natürlich herzlich willkommen – wenn sie hier als Briten leben wollen! Und das heißt, daß sie unsere Werte, Moral und Gesetze übernehmen müssen. Bisher hat in der Geschichte noch so gut wie jede Minderheit verstanden, daß sie sich an die Gesetze der einheimischen Mehrheit halten muß. Nun aber wittern die Islamisten den kulturellen Verfall des Westens und spüren, daß sie es sich erlauben können, unseren Säkularismus zu ignorieren. Der bei uns durch die Linke durchgesetzte Werterelativismus, ihr Appeasement-Denken und ihr Multikulturalismus erlauben es also radikalen Islamisten, sich in Europa auszubreiten und ihren Hebel anzusetzen.

Wie ist es nach Ihrer Ansicht der Linken gelungen, die Kultur zu kontrollieren?

Phillips: Eine interessante Frage. Ein Vorteil war sicher, daß Großbritannien ein Zentralstaat ist, aber auch, daß es hierzulande nicht, wie etwa in den USA, diese Tradition gibt, daß reiche Philanthropen Institute gründen, die sich auch entgegen das modische Zeitgeistdenken positionieren. In den USA gibt es dagegen eine Vielzahl von alternativen Denkfabriken, Medien und Institutionen, so daß dort zur politisch korrekten eine alternative Öffentlichkeit existiert. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen in Deutschland ist, in England jedenfalls gibt es so etwas nicht. Hierzulande gibt es nur einen Diskurs.

Schuld daran ist laut Ihrer Analyse unter anderem ausgerechnet die BBC.

Phillips: Ja, sie mag mehr als jeder andere Fernsehsender dazu begeitragen haben, die Kultur im Westen zugunsten der Linken zu verändern. Denn die BBC ist eine der größten und mächtigsten Fernsehanstalten der Welt, nicht nur, weil sie eine globale Infrastruktur hat, sondern auch weil sie weltweit Vorbildcharakter genießt, als mustergültig objektiv und fair gilt. Tatsächlich aber praktiziert die BBC schon lange einen „Guardian“-Journalismus – der Guardian ist Großbritanniens führende linksliberale Tageszeitung. Beide reflektieren das linksliberale Denken der Intelligenzija, deren Basis die Universitäten sind. Diese geistige Haltung bestimmt die Vorauswahl an Themen, über die bei der BBC berichtet werden, sie bestimmt die Art und Weise, wie man diese diskutiert, ebenso wie die Auswahl der Interviewpartner und die Prämissen, die den Journalistenfragen an diese zugrunde liegen. Dadurch hat die BBC maßgeblich dazu beigetragen, das politische Koordinatensystem nach links zu verschieben, so daß heute das, was eigentlich links ist, als Mitte gilt, und das, was Mitte ist, als rechts verschrien wird.

Obwohl Sie sich selbst als Liberale im klassischen Sinne betrachten und den Säkularismus einfordern, loben Sie den Einfluß der Kirche. Wie paßt das zusammen?

Phillips: Ich glaube, daß das, was sich in Großbritannien vollzieht, nicht nur hausgemacht, sondern auch Teil einer allgemeinen kulturellen Erschöpfung des Westens ist. Zum einen haben die beiden Weltkriege wohl eine fundamentale Wunde in das Bewußtsein der Europäer geschlagen. Davor war das Selbstbild des Alten Kontinents, die Vorhut von Fortschritt, Moderne, Vernunft und Zivilisation zu sein. Dieses kollektive kulturelle Selbstverständnis ist heute tief erschüttert. Zum anderen hat die Moderne uns den Konsumismus gebracht, der den Westen spirituell ausgehöhlt hat. Es mag ja ein Klischee sein – aber es stimmt. Das ist übrigens eine Wahrheit, die auch der Papst ausspricht. Ich bin zwar kein Katholik, aber in dieser Sache hat er, fürchte ich, völlig recht. Die Europäer haben damit das Empfinden für den Sinn des Lebens verloren. Denn mit dem Verlust der Fähigkeit zum religiösen Empfinden verlieren die meisten Menschen auch das Gespür für die Sinnhaftigkeit des Lebens. Infolge dessen setzt eine allgemeine kulturelle Erschöpfung und Demoralisierung ein.

Sie warnen, das sei genau der Punkt, auf den radikale Islamisten zielten.

Phillips: Genau, denn diese haben diesen Zusammenhang perfekt verstanden. Der zentrale Grund für alle Unvernunft, die sich im Westen in Gestalt von linken Ideologien ausbreitet, ist das Schwinden der Religion. Man bringt uns bei, Religion und Vernunft widersprächen sich – die Wahrheit aber ist, das Gegenteil ist der Fall: Es waren das Christentum und die hebräische Bibel, denen wir unser Konzept von Vernunft, Fortschritt und einer geordneten Welt verdanken – der Grundlage für Wissenschaft und Moderne. In den USA stellen die meisten Kirchen noch die Vorhut bei der Verteidigung der westlichen Kultur und Moralbegriffe dar, während bei uns der Verlust der Religiosität, selbst in den Kirchen, dazu geführt hat, daß Vernunft und Wahrheit durch Ideologie und Vorurteil ersetzt worden sind, die sich anschicken, sich zu einer säkularen Inquisition zu verdichten. Der Westen hat den biblischen Moralkodex, auf dem seine Kultur fußt, eingetauscht zugunsten von Hyperindividualismus und Werterelativismus, die besagen, daß das, was gut und richtig für mich ist, allgemein gut und richtig sei. Die Islamisten haben verstanden, daß dieser Relativismus ein kulturelles Vakuum erzeugt und daß die Europäer, wenn sie nicht mehr wissen, an was sie glauben sollen, auch nicht mehr bereit sind, für ihre Kultur zu kämpfen, geschweige denn notfalls dafür zu sterben.

Also, wie lautet Ihre Prognose?

Phillips: Vorhersagen sind das Spiel des Narren. Wenn ich die Entwicklung hochrechne, wird Europa in einigen Jahrzehnten islamisiert sein. Aber so linear laufen die Dinge meist nicht. Ich hoffe, daß wir noch zur Besinnung kommen, ehe wir uns sehenden Auges über die Klippe stürzen.

 

Melanie Phillips: Die preisgekrönte Kolumnistin des britischen Nachrichtenmagazins The Spectator sowie der Daily Mail gilt laut BBC als „führende rechtsgerichtete Stimme in den Medien“ Großbritanniens. Geboren 1951 als Tochter einer jüdischen Familie schrieb sie außerdem für Times, Observer, Guardian, Wall Street Journal und andere und tritt regelmäßig in Radio und Fernsehen auf. Bereits 2006 sorgte Phillips, die immer mehr in die Fußstapfen der verstorbenen Islamkritikerin Oriana Fallaci tritt, mit ihrem Buch „Londonistan. How Britain Is Creating a Terror State Within“ für Debatten. Dort analysiert sie, wie die britische Einwanderungspolitik zu islamisch-terroristischen Strukturen führt. Ihr neues Buch, „The World Turned Upside Down“, lobt William Kristol im Weekly Standard als „dringend und faszinierend“. Der ehemalige CIA-Chef James Woolsey stellt es gar in eine Reihe mit den Essays George Orwells. www.melaniephillips.com

 

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