© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

CD: Beethoven
Metallischer Anschlag
Jens Knorr

Muß es sein? Es muß sein! Den Aufnahmen aller 32 Klaviersonaten von Beethoven durch Schnabel und Kempff, Brendel und Barenboim, Judina und Nikolajewa und all die anderen hat der luxemburgische Pianist Jean Muller die seine hinzugefügt, und die stellt sich als für den Hörer ebenso notwendig heraus, wie sie dem Aufführenden notwendig gewesen sein muß.

Muller, 1979 in Luxemburg geboren, erhielt den ersten Klavierunterricht mit sechs Jahren am Konservatorium seiner Heimatstadt, 1995 ein wegen ausgezeichneter Studienergebnisse gewährtes Auslandssemester an der staatlichen Musikakademie Riga in der Klasse von Teofíls Bikís. Er studierte in Brüssel, Paris und München bei Evgeni Moguilevski, Eugen Indjic, Gerhard Oppitz und Michael Schäfer. Sein Vater und Mentor Gary Muller ist Professor für Klavier am Konservatorium Luxemburg. In der nächsten Spielzeit wird Muller im Rahmen des Zyklus CAMERATA – organisiert von den Solistes Européens in Kooperation mit den Soirées de Luxembourg – „artist in residence“ an der Philharmonie Luxemburg.

Die CDs dokumentieren eine Reihe von acht Solokonzerten zwischen Herbst 2007 und Frühjahr 2009 im Centre des Arts Pluriels d’Ettelbruck, ohne daß, soweit zu hören, die je verschiedene Tagesform des Pianisten nachträglich tontechnisch camoufliert worden wäre. Die Rückwendung zur Live-Aufnahme – nicht zu verwechseln mit einer Montage mehrerer Konzerte, die dann als ein Mitschnitt ausgegeben wird – und Abwendung von der aseptischen Studioaufnahme scheint bei vielen der Jungen Programm. Sie wollen Unmittelbarkeit wiedergewinnen, den Vorgang des Produzierens im Produzierten bewahren. Fehlgriffe sind Späne, die fallen, wo gehobelt wird.

Mullers Hobeln hat Beethovenschen Körper. Sein Spiel ist weder Vorüberschreiten am Denkmal, dessen Sprache die der Hieroglyphen ist, noch Denkmalssturz, weder heilige Handlung noch Dekonstruktion. Der Interpret verfertigt seine Gedanken nicht beim Spielen, sondern gibt die gefundenen weiter. Eigensinn und Freiheiten, die er sich nimmt, wiewohl nicht immer einsichtig, erscheinen immer als Vorschläge kenntlich und nie mit usurpatorischem Anspruch der Komposition aufgezwungen.

Mullers großartig unabgeklärtes Spiel, mit hartem, metallischem Anschlag, der bisweilen furztrocken oder drahtig sein kann, kommt vor allem den späten Sonaten zugute, jenen maßlosen Arbeiten im Bergwerk der Kontrapunktik und freien Improvisation, wie aus einem Steinbruch an Ideen herausgesprengt, aus dem sich die Nachfolgenden noch über mehr als ein Jahrhundert lang bedienen sollten. Doch im Vergleich von Mullers Spiel mit dem der Großen – etwa der rätselvollen Sonate Op. 111, mit dem unergründlich durchsichtigen von Anatol Ugorski – wird das Unfertige offenbar, das ein Versprechen ist.

Vielleicht braucht es nicht viel mehr als die 32 Beethoven-Sonaten für ein Pianistenleben, wohl aber ein Pianistenleben für diese Sonaten. Muller hat seine pianistische Biographie mit ihnen kurzgeschlossen. Was sie noch werden könnten, das klingt in seinem Spiel längst auf. Man legt seine Einspielung nach einmal Hören noch lange nicht zu dem übrigen.

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