© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Im Schatten der Mauer
Weltstadt mit Vorreiterrolle: Eine persönliche Liebeserklärung an das untergegangene West-Berlin
Ronald Berthold

Der Kabarettist Wolfgang Gruner brachte es auf den Punkt: „In Berlin ist alles anders. Selbst wenn man hier in einen Hundehaufen tritt, ist das anders als anderswo.“ Das legendäre „Stachelschwein“ bediente damit den Lokalpatriotismus der West-Berliner. Denn die Menschen, die in der früheren Halbstadt lebten, empfanden ihren Teil der heutigen Kapitale tatsächlich als etwas Besonderes. Und womit? würde der unvergessene Harald Juhnke fragen, um die Antwort gleich hinterherzuschieben: „Mit Recht!“

Gerade die nach der Wende Zugezogenen jedoch versuchen heute, die Vergangenheit der Insel im „roten Meer“ in ein peinliches, provinzielles Licht zu rücken. Wo man auch hinhört: Viele der in den letzten Jahren nach Berlin gegangenen Provinzler, die sich für Weltbürger halten, wollen sich am alten West-Berlin abreagieren. Piefig sei das Leben in der Mauerstadt gewesen, spießig sogar. Mit einer Kleingartenmentalität habe es sich in West-Berlin am besten aushalten lassen. Um es gleich vorweg zu sagen: Wer so redet, hat nicht alle Latten am Zaun – um beim Bild des Laubenpiepers zu bleiben.

Genau wie heute die gesamte Hauptstadt war West-Berlin zu Zeiten des geteilten Deutschlands der Trendsetter für die Bundesrepublik. Die Kneipen, Diskos und Tanzlokale öffneten rund um die Uhr. Fast überall gab es Live-Musik. Straßenmusikanten hauchten den Einkaufsstraßen südländisches Flair ein. Die Atmosphäre auf den Straßen und Plätzen hatte immer etwas Weltstädtisches. Und politische Entwicklungen – nicht nur die Achtundsechziger-Studentenrevolte – brachen sich von West-Berlin aus ihre Bahn nach West-Deutschland.

Antikommunismus war ein Massenphänomen

In West-Berlin gab es viele Dinge, die wir nicht zurückhaben wollen, die wir aber dennoch vermissen. Den Flohmarkt in den U-Bahnhöfen der Hochbahn in Schöneberg zum Beispiel. Natürlich ist es wunderschön, daß dort jetzt wieder Züge verkehren und durch Mitte bis nach Pankow fahren können. Aber wo gab es so etwas schon? Antike Möbel und historische Posthörner als Verkaufsschlager in U-Bahnwaggons? Selbst im Alltag war West-Berlin niemals alltäglich.

Und dann war da diese Mauer, die tatsächlich ein sehr trauriges Alleinstellungsmerkmal bot. West-Berlin war so groß, daß man tage-, ja wochenlang unterwegs sein konnte, ohne auf die häßliche Narbe zu stoßen. Irgendwann aber konnte man ihr nicht mehr ausweichen. Dann war sie da, die Grenze mit ihren schwerbewaffneten Soldaten und abgerichteten Hunden. Und damit auch das Bewußtsein, daß die „Brüder und Schwestern“ im Ostsektor mit dem Leben bezahlen müssen, wenn sie zum Ku’damm oder zum Hertha-Spiel ins Olympiastadion wollten.

Diese schreckliche Realität schuf ein einzigartiges Zusammengehörigkeitsgefühl. Viele Autofahrer mit dem Kennzeichen „B“ grüßten sich per Lichthupe oder per Winken – egal, wo sie sich auf der Welt trafen. Selbst, wenn es im wirklich piefigen Bonn war. Wer aus West-Berlin stammte, der machte keine Kompromisse in Sachen Kommunismus. Viele selbsternannte Liberale, die in Wirklichkeit Diktaturverharmloser waren, schauen auch deswegen mit so viel Ekel auf das alte West-Berlin, weil der Antikommunismus hier ein Massenphänomen war, das gelebt wurde.

Alle, die verzweifelt davon träumten, mit einem Nestlé-Boykott die Welt zu verändern, sahen schockiert, wie rigoros die West-Berliner ihr Ding durchzogen und was es heißt, wenn wirklich etwas boykottiert wird. S-Bahn-Fahren war verpönt, weil die Züge und Bahnhöfe der Reichsbahn gehörten, die wiederum in DDR-Besitz war. Und verpönt hieß nicht, daß es nicht schick war, sondern, daß man es nicht machte – und zwar bis zum Schluß. Zu welcher Zeit man auch auf einen S-Bahnsteig ging, die Zügen waren immer leer. Und das in einer 2,2-Millionen-Einwohner-Metropole.

S-Bahn-Fahren war verpönt

Was viele gern verdrängen: (West-)Berlin war auch vor 1989 die mit Abstand größte Stadt Deutschlands – und die grünste und die wasserreichste und die interessanteste und überhaupt. Zwischen Frohnau und Rudow hätte man Urlaub machen und jeden Tag etwas neues Interessantes entdecken können. Vom buddhistischen Kloster in Form einer Pagode und den verträumten Pferdekoppeln in Lübars bis zu den Feldern in Rudow oder dem Teufelsberg im Grunewald, von wo aus sich die Drachenflieger an ihren Geräten in die Tiefe stürzten.

Höhere Lebensqualität als in Westdeutschland

Für jemanden, der in West-Berlin geboren wurde oder aufgewachsen ist, wird die Halbstadt immer Heimat bleiben. Eine Heimat, die es so nicht mehr gibt. Und die täglich weiter verschwindet. Derzeit werden die Häuser am Breitscheidplatz geschleift und damit das Gesicht der Stadt, das einen begrüßte, wenn einen der D-Zug am Bahnhof Zoo ausspuckte. Mit diesen zugegeben nicht sehr schönen Bauten ist das unvergleichliche Gefühl verbunden: Endlich wieder zu Hause. Oder die Deutschlandhalle, in der man die schönsten Konzerte verfolgt hat und die nun 2011 der Abrißbirne zum Opfer fällt. Oder das ICC. Oder der Flughafen Tempelhof. Oder oder oder. Ohne mit der Wimper zu zucken, schleift der Senat ein Stück identitätsstiftendes Stadtmöbel nach dem anderen.

Dazu schmerzt die Abfälligkeit im Ton und in der Wortwahl, mit der oft von Zugereisten über diese spezielle Stadt in einer sehr speziellen Zeit geredet wird. Nicht, weil man sich die alten Zeiten zurückwünscht, sondern weil auch diese viel Lebensqualität boten – mehr übrigens als es jede Stadt in Westdeutschland tat.

Und noch ein Übrigens: In diesen alten Zeiten hat sich jeder Westberliner gewünscht, daß seine Insel wieder Festland wird, wie es die unvergessenen „Insulaner“ gesungen haben. Und auch heute wird es keinen ernstzunehmenden Menschen geben, der sich nicht jeden Tag über die Wiedervereinigung, den nun erreichbaren Müggelsee und das Schloß Sanssouci freut. Das heißt aber nicht, daß das von Geschichte und Kommunisten durch die brutalste Grenze und Teilung der Welt gestrafte West-Berlin ein Mauseloch war.

Im Gegenteil: Ohne das Durchhaltevermögen und die Lebensfreude der Westberliner hätte das Schaufenster des Westens irgendwann dichtmachen müssen. Ob das Streben der Ostdeutschen nach nationalstaatlicher Einheit ohne die lebendige Insel hätte wachgehalten werden können? Worauf hätte man nach dem Fall der Mauer ohne West-Berlin aufbauen und eine neue Hauptstadt entwickeln wollen – auf dem gastronomisch, wirtschaftlich und städtebaulich teilweise völlig heruntergekommenen und ruinierten Ost-Berlin?

Den Menschen, die aus Überzeugung und mit Leidenschaft in der eingemauerten Stadt gelebt haben, gebührt auch das Verdienst, den Grundstock für die ebenso pulsierende Metropole von heute gelegt zu haben. Die Stadt ist nie eingeschlafen, auch nicht, als viele in Ost und West sie totreden wollten. Berlin war immer lebendig, ob vor dem Krieg, nach der Wiedervereinigung oder aber während der Zeit der grausamen Mauer.

Café Kranzler auf dem Kurfürstendamm, im Hintergrund die Gedächtniskirche: Ohne das Durchhaltevermögen der Westberliner hätte das Schaufenster des Westens irgendwann dichtmachen müssen

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