© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Keine Sonderwege im Schlachtengetümmel
Thomas Weber über Hitler und seine deutschen Weltkriegskameraden an der Westfront 1914 bis 1918
Sverre Schacht

In „eine Schatztruhe voller Papiere über Hitlers Regiment“ greift der deutsche Historiker Thomas Weber. Er fördert tatsächlich Neues zu Adolf Hitler und dessen Frühzeit zutage. Vor allem gelingt dem in Schottland Lehrenden dank seiner Auswertung bisher wenig beachteter Quellen ein mitunter erfrischend unzeitgeistiges, aber um so mehr an jener beschriebenen Zeit orientiertes allgemeines Bild deutscher Soldaten im Ersten Weltkrieg.

„Hitlers erster Krieg“ macht Hitler streckenweise zur Nebenfigur und bietet doch Überraschungen. Weber filtert sie aus archivarisch unerschlossenen Dokumenten des bayerischen „List-Regiments“, in dem Hitler diente, heraus. Die erste ist, daß Weber sich nicht scheut, die angesehensten Forscher zu hinterfragen, wann immer deren Darstellung Spuren der NS-Propaganda widerspiegelt. Den Mythos vom Frontsoldaten Hitler zerlegt Weber genüßlich anhand der teils von ihm erschlossenen Briefe enger Weggefährten: „Die Wahrheit ist, daß Hitler, der in ‘Mein Kampf’ kein einziges Mal erwähnte, daß er schon nach der ersten Schlacht kein Frontsoldat mehr gewesen ist, sondern Meldegänger im Regimentshauptquartier, keineswegs einen wochenlangen ‘Wirbelsturm des Trommelfeuers’ erlebte.“

Als solcher war Hitler, argumentiert Weber, im Unterstand fern der Front weit weniger gefährdet als die Melder auf Bataillonsebene und darunter. Diese mußten ihm demnach zur Übergabe weit entgegen kommen. Hitlers Rolle bei der Rettung eines Vorgesetzten, gemeinhin Beleg seiner Tapferkeit, kommt bei Weber ebenfalls schlecht weg, obwohl Hitler und Kameraden dafür mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse „immerhin die zweithöchste militärische Auszeichnung, die für Soldaten ihres Ranges in Frage kam“ erhielten und er später „von einem Juden für das Eiserne Kreuz [I. Klasse] vorgeschlagen“ wurde. Doch dafür waren laut Weber eher „Beziehungen zu Offizieren“ von Bedeutung. Weber schreibt zum „EKII“: „Nach dem ursprünglichen Bericht waren nicht Hitler und Bachmann, sondern insgesamt vier Meldegänger vorgetreten, um Engelhardt in Sicherheit zu bringen.“ Auf diesen Offizier war aber nicht geschossen worden, die Melder waren nur „besorgt gewesen, er könne in das heftige Kreuzfeuer geraten“.

Weber kontrastiert Hitler und die Offiziere „unter dem Weihnachtsbaum“ mit denen an der Front und übergeht allerdings auch, daß der Kriegsfreiwillige Hitler auf seine vergleichsweise günstige Verwendung kaum Einfluß hatte. Statt einer eigenen Einschätzung präsentiert Weber die der Frontsoldaten. Demnach „war das Domizil des Gefreiten Hitler ein paradiesischer Ort“. Webers Fazit: „Die größte Gefahr für ihn waren hinter der Front einschlagende Artilleriegeschosse, nicht jedoch Gewehr- oder Maschinengewehrfeuer oder die anderen großen Bedrohungen für das Leben der Frontsoldaten, darunter Minenexplosionen unter den Schützengräben.“ Daß diese Gefahr alles andere als theoretischer Natur war, beweist nicht zuletzt die Beinverwundung Hitlers durch eine Granatenexplosion während der Schlacht an der Somme 1916.

Weber, Experte für Europäische und Internationale Geschichte, spürt auch der politischen Prägung Hitlers nach: „Die Männer im Hauptquartier des Regiments wurden rasch zu einer Ersatzfamilie“, so daß Hitler anders dachte als die Mehrheit seiner Kameraden, denn „unter den Soldaten seines Regiments war kaum einer, der die Tage in den Schützengräben bei Messines als die glücklichste Zeit seines Lebens empfand.“ Anhand von Feldpostbriefen, Regimentsgerichtsakten sowie der noch 1932 von einer späteren Verklärung Hitlers weitgehend unbeeinflußt erschienenen Regimentsgeschichte zeichnet Weber eine farbige Studie der Einstellungen einfacher Soldaten wie der Hitler umgebenden Offiziere.

Diese indirekte Annäherung sagt mitunter mehr über die Mannschaften als über Hitler. Dessen spätere politische Deutung der Frontkämpfer zerfällt, „und es werden Zweifel an der These geäußert, die deutsche Gesellschaft der Weimarer Jahre sei aufgrund einer unterentwickelten demokratischen Kultur gescheitert“. Auch widerlegt das Buch plumpe Deutschlandkritik: „In Wahrheit war anfangs nur eine Minderheit der Deutschen wirklich begeistert vom Krieg. Die meisten Menschen reagierten mit Angst und Trauer.“ Daß die Regierung „keine Militärdiktatur war“ und „zivile Kontrolle des Militärs in Deutschland zumindest teilweise funktionierte“, steht für ihn ebenso fest. Auch wurden auf deutscher Seite nicht nur sehr viel weniger Soldaten hingerichtet als in den Streitkräften der Entente, sondern „die Mindeststrafe für verschiedene Formen der Desertion (...) auf Drängen des Reichstages in den Jahren 1916 und 1917 zweimal herabgesetzt“.

Zivile Kontrolle des Militärs funktionierte in Deutschland

Im Lazarett erlebte der verwundete Hitler derweil gut versorgt im brandenburgischen Beelitz den „Steckrübenwinter“ mit wenig Verständnis für die sinkende Kriegsmoral des Volkes. Die deutschen Soldaten „erwiesen sich als mehr oder weniger immun gegenüber jeder ideologischen Indoktrination“ während Hitler im Lazarett Eindrücke für einen späteren „Kreuzzug“ sammelte, so Weber, „um jene an der Heimatfront dingfest zu machen, die seiner Meinung nach die Verantwortung für die stetige Verschlechterung der Lage Deutschlands im Ersten Weltkrieg trugen“. Die Frontsoldaten hatten indes Weihnachten vor Augen. „Wenig deutete darauf hin, daß das Gemetzel an der Somme zu einer Verrohung und Brutalisierung dieser Soldaten, zur Entwicklung eines übersteigerten Nationalismus oder zu wachsendem Haß auf die Briten geführt hätte“.

Die These, Deutschland habe „die Erfindung des Vernichtungskrieges“ zu verantworten, weist Weber ebenfalls zurück: „Auch im Ersten Weltkrieg war diese Politik schon vor dem ‘Unternehmen Alberich’ [planmäßiger Rückzug der deutschen Truppen unter Verwüstung des zurückgelassenen Terrains, d. Red.] angewandt worden“. Die von ihm dargestellten Erfahrungen jüdischer Soldaten wertet Weber so: „Die Kriegserfahrung der Juden im List-Regiment sollte nicht aus der Perspektive des Holocaust betrachtet werden“, denn „anders als in Großbritannien (...) kam es in Deutschland während des Krieges nicht zu antisemitischen Unruhen“.

Im Kapitel „Hitlers zweiter Krieg“ verteidigt Weber unter anderem den Widerstand zwischen 1939 und 1945: „Als wir uns mit der Frage beschäftigt haben, warum die Soldaten des List-Regiments im Ersten Weltkrieg mehr als vier Jahre lang weiterkämpften, haben wir festgestellt, daß die Bereitschaft zur Pflichterfüllung nicht unbedingt mit Kriegsbegeisterung gleichzusetzen ist.“ Eine Fähigkeit zur Führung spricht Weber Hitler ab. Nach einem Senfgasangriff war dieser, „nachdem er vier Jahre lang ein erstaunliches Maß an Beharrungsvermögen bewiesen hatte, schließlich nicht mehr imstande, die Wirklichkeit des Krieges psychisch zu ertragen“.

Als „schwächlicher junger Mann“, der „kaum eine militärische Ausbildung erhalten hatte“, bleibt er laut Weber immer auf der Stufe des uninspiriert, „diensteifrig“ Befehle befolgenden Soldaten stecken, der nie zu einer Beförderung vorgesehen war. Webers Fazit ist wie das ganze Buch lesenswert: „Wenn es im Deutschland der Zwischenkriegszeit zur Zerstörung der Demokratie kommen konnte, spricht einiges dafür, daß es überall dazu kommen kann.“

Thomas Weber: Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit. Propyläen Verlag, Berlin 2011, gebunden, 469 Seiten, 24,99 Euro

Foto: Hitler (sitzend, re.) mit Kameraden, Westfront 1915: Nicht den „Wirbelsturm des Trommelfeuers“ erlebt

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