© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Nesthocker
Vor allem junge Männer stellen ihre Füße immer länger unter den elterlichen Tisch
Werner Becker

Die Jugend will auf eigenen Beinen stehen. Von wegen: Immer mehr junge Erwachsene bleiben im wörtlichen Sinne zu Hause. So leben heute noch knapp ein Drittel der 25jährigen Deutschen im Hotel „Mama und Papa“. Eine Geschlechterdifferenz ist hierbei nicht zu leugnen: 38 Prozent der Söhne, aber nur 21 Prozent der Töchter bewohnen in diesem Alter noch ihre Kinderzimmer. Unter den 30jährigen bleibt durchschnittlich jeder achte Mann (13 Prozent), aber nur jede zwanzigste Frau (5 Prozent) bei den Eltern hocken. Diese Zahlen des Statistischen Bundesamtes werden von einer Umfrage von Immobilienscout24 gestützt.

Von den über eintausend befragten Jugendlichen trieb der Wunsch nach mehr Eigenständigkeit lediglich 45 Prozent zum Auszug aus dem Elternhaus. 35 Prozent der Befragten wollten endlich mit ihrem Partner in eine gemeinsame Wohnung zusammenziehen, fast ebensoviele verließen die elterliche Wohnung, um in weiter entfernten Städten zu studieren. Nur wenige gaben an, „keine Lust mehr auf die Eltern“ zu haben.

Finanzielle Unsicherheiten und die schlechte Arbeitsmarktlage sind die Hauptursachen für das ewige Nesthockerdasein. Auch in Österreich steigt der Trend zur längeren Nutzung der Kinderstube. „Längere Ausbildungszeit und oft anfänglich befristete Arbeitsverhältnisse verlängern die ökonomische Abhängigkeit von den Eltern“, sagt die österreichische Wirtschaftsforscherin Gudrun Biffl. Über 61 Prozent der 20- bis 24jährigen Österreicher lebt zu Hause, berichtet die Wiener Zeitung.

Nach der Internetumfrage von Immobilienscout24 suchen viele jüngere Menschen aus Bequemlichkeit wenigstens in der Nähe der Eltern, das gaben zumindest die Männer zu, immerhin kämen 30 Prozent zum Essen regelmäßig bei den Eltern vorbei. Außerdem legte die Umfrage noch offen, daß die meisten jungen Erwachsenen direkt mir ihrem Partner zusammenzögen. Die wenigsten würden sich für eine Wohngemeinschaft entscheiden.

Die österreichische Entwicklungspsychologin Christiane Papastefanou hat beobachtet, daß „der Wunsch nach Selbständigkeit bei Spätausziehenden weniger ausgeprägt ist“. Die allgemeine Desorientierung, die bei Berufswahl und Zukunftsplanung unter Jugendlichen herrscht, unterstützt das Phänomen der Nesthocker. Dieser Trend hält seit einigen Jahrzehnten an. So stieg das Auszugsalter in den USA vor allem in den 1980er Jahren stark an. In der Bundesrepublik lebten 1980 nur 21 Prozent statt der heutigen 30 Prozent der 25jährigen unter dem Dach der Eltern. Momentaner Spitzenreiter ist aber Italien, wo ungefähr fünfeinhalb Millionen „Bamboccioni“ (Nesthocker) im Alter zwischen 18 und 34 Jahren nicht flügge werden. Fast 70 Prozent der Altersgruppe.

Teufelskreis: Aus Angst vor Einsamkeit einsam

Viele hätten Angst vor Einsamkeit, schiebt Papastefanou eine Erklärung nach, obwohl gerade Menschen, die sehr lange zu Hause wohnen, einsamer sind als selbständige Menschen. Schließlich würden auch die Eltern alt und stürben irgendwann einmal. Sollten die Kinder bis zum Tod ihrer Eltern noch nicht ausgezogen sein, entwickeln sie sich nach Meinung der Psychologin zu Außenseitern. Sie hätten dann keine eigene Familie gegründet und stünden komplett vereinsamt da. Ein Teufelskreis.

Daß gerade Männer länger am Rockzipfel von Mama hängenbleiben, rächt sich übrigens bei der Partnersuche. Die Singlequote liegt bei den 25jährigen Muttersöhnchen deutlich höher als bei gleichaltrigen Frauen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen